Schließlich erspähte er im Gewimmel sogar ein Schild zum richtigen Bahnsteig, entschied jedoch in diesem Viertel zu bleiben. Saint-Germain oder Montmartre, was machte das für einen Unterschied? Keinen! Deren Sinn und Zweck war derselbe: Zeit totzuschlagen. Er verließ die Station und schlenderte die Rue Lepic hügelan. Ziellos stöberte er durch eine Buchhandlung, einen Plattenladen, eine Boutique, blätterte durch diverse Bildbände, hörte diverse Platten Probe, griff diverse Anzüge von diversen Kleiderständern. Die reine Notwendigkeit füllte schließlich eine papierne Tüte, diverse Kosmetikartikel, ein T-Shirt und ein frisches Oberhemd. Noch zweidreiviertel.
Ein kurzer Gang durch kleine Gässchen, über die Place du Tertre zur Sacré-Cœur, immer den Lemmingen hinterher, dann hatte das touristische Programm sein schnelles Ende gefunden. Statt länger mit Krethi und Plethi von Top-Ten-Sehenswürdigkeit zu Top-Ten-Sehenswürdigkeit zu traben, suchte sich Jo lieber ein schattiges Plätzchen und stahl sich davon. Wie er es in Kindertagen oft getan hatte, wenn die Welt der Erwachsenen ihren langen Schatten auf die seine warf. Wenn er, ausstaffiert wie ein Pfingstochse, artig am Wohnzimmertisch der Tante sitzen musste, statt auf die Bäume im Garten zu klettern. Wer hatte Nathan zugeblinzelt in solchen Momenten? Hatte es auch für ihn einen Elias gegeben? Jo atmete tief durch, ein Gähnen mühsam unterdrückend. Hier standen jene alten, noblen, ehrwürdigen Jugendstilhäuser mit ihren hohen Räumen, in die er seinen Bruder imaginiert hatte, an einem alten, schweren Eichentisch sitzend. Freundlich und hell war es, Nathans Arbeitszimmer, großzügig und gemütlich in der Schlichtheit der Einrichtung. Den Wänden entlang raumhohe Regale voll alter Bücher, der Schreibtisch übergroß, zentral im Raum platziert, darauf nur seine Schreibmaschine und eine goldene Tischlampe, deren Glanz stumpf geworden war im Lauf der gemeinsamen Jahre. Auf dem Boden lange Dielen, eichen und alt wie der Tisch, knarrend unter der Last müßig gehender Schritte eines nachdenklichen Mannes. Genau so stellte er sich das Ambiente vor, in dem sein Bruder seine Kinder gebar. Vergessen langte Jo eines davon aus der papiernen Tüte, in der er es seit Stunden durch die Stadt trug, zusammen mit seinen wenigen Einkäufen. Zögerlich klappte er das Buch auf, stieß auf eine handschriftliche Notiz, die im schummrigen Licht der vorangegangenen Nacht nicht zu sehen gewesen war. ›Colbert‹ stand auf der linken Seite, der Rückseite des Buchdeckels zu lesen, darunter einige Zeilen in Latein.
»Quis est in vobis qui audiat«, sagte Jo halblaut vor sich hin.
»Hoc adtendat et auscultet futura«, vollendete eine fremde Stimme das Zitat.
Irritiert hob Jo den Kopf, fiel kopfüber aus seinem Tagtraum, als er des Mannes gewahr wurde, der vor der Bank stand, keine zwei Schritte entfernt, den Blick geradeaus gerichtet, knapp an Jo vorbei. Ein Stutzer, der Fotografie eines aristokratischen Briten entsprungen, ein moderner Dandy, ein überdauerter Dorian Gray. Der Anzug schwarz, das Hemd blütenweiß mit gestärktem Kragen, beides sicherlich von kunstfertiger Hand geschneidert, Schuhwerk und Hut in Manufaktur gefertigt. Dazu Ledergamaschen und ein Gehstock mit silbernem Knauf. Die Haut von seltsamer Beschaffenheit, bleich, fast wächsern. Unbewegt harrte der Herr auf ein Zeichen der Einladung, die Hände auf seinen Gehstock gestützt. Behäbig schwenkte Jo die Hand hin und her, flink wie die Zunge eines Chamäleons schnellte der Stock empor, stoppte millimetergenau davor.
»Entschuld … Excuse … Par …«, stammelte Jo.
»Was dachten Sie denn, dass ich blind sei?«, brummte der Herr, »Aber ja das bin ich, wenngleich das nicht bedeutet, dass ich nicht sehen kann. Sie sitzen auf meinem Platz!«
»Oh, Entschuldigung«, antwortete Jo, rückte zur Seite und bot mit knapper Bewegung den Sitz an. Verstohlen zog er die Hand wieder ein, sagte stattdessen: »Bitte sehr.«
»Danke sehr.«
»Wo haben Sie so gut deutsch gelernt?«, fragte Jo neugierig.
»Wo haben Sie so gut deutsch gelernt?«, fragte sein Nachbar.
»Zuhause und in der Schule«, antwortete Jo verwirrt.
»Zuhause und in der Schule«, wiederholte sein Nebensitzer.
Auf eine Fortsetzung wartete Jo vergeblich. Der Herr starrte schweigend vor sich hin, an einer Konversation offenbar nicht interessiert. Die Wiederholung sollte wohl seine Antwort sein. ›Blasierter Lack‹, nölte Jo in sich hinein und fiel seinerseits in Schweigen, wandte seine Aufmerksamkeit den lateinischen Zeilen zu. Was hatten die Worte zu bedeuten? Wer hatte die Notiz hinterlassen? Der namenlose Mann? Pater Frédéric? Ein unbekannter Dritter? Und warum hatte er oder sie die Worte notiert? Nach Paris gekommen war er um Antworten, Gewissheit zu finden - stattdessen fanden sich weiter Fragen und Ungereimtheiten. Statt hinaus, führte der Weg immer weiter hinein in den Morast unbeantworteter Fragen. Grübelnd versank er tief in stiller Wortlosigkeit, von seinem Banknachbarn keine weitere Notiz nehmend.
»Ein Bibelzitat«, sagte der unvermittelt, brummend wie zuvor.
»Ein Bibelzitat«, wiederholte Jo gedehnt als zöge er sich an den Worten langsam in die Wirklichkeit zurück.
»Wer ist unter euch, der das zu Ohren nimmt, der aufmerkt und es hört für künftige Zeiten?«, rezitierte der Herr. »Jesaja, Kapitel 42, Vers 23«, fügte er an. »Es ist selten, dass ein junger Mensch wie Sie im Buch der Bücher liest.«
»Ich lese nicht in der Bibel. Und ein so junger Mann wie Sie meinen, bin ich auch nicht mehr. Wir dürften ungefähr gleich alt sein.«
»Jetzt haben Sie uns beide beleidigt!«
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung!«
»Akzeptiert!«, sagte der Herr und streckte Jo die Hand hin, die wächsernen Gesichtszüge von einem weit entfernten Verwandten eines Schmunzeln gestreift: »Benoît Soulaire.«
»Jo Boeger«, sagte Jo bass erstaunt die Hand ergreifend. Saß da noch derselbe neben ihm auf der Bank? Wohin war jener eitle, selbstgefällige Lack entschwunden? Wo der Stenz geblieben? Er hatte sich in Nichts aufgelöst, als hätte sich Benoît's inneres Kaleidoskop eben ein wenig gedreht. Die Scherben des Ich zu einem neuen Bild gefügt, offerierte sich nun ein gänzlich anderes Wesen. Jo blickte ihm eindringlich ins Gesicht. »Aber blind sind Sie schon?«
»Wer von seinen Mitmenschen in Ruhe gelassen werden will, der muss sich schon etwas einfallen lassen«, entgegnete Benoît und beugte sich Jo zu, legte sanft den Finger auf die Lippen: »Psst, verraten Sie meine kleine Maskerade nicht.«
»Ich werde mich hüten, nun, da ich zu den Auserwählten zähle. Außerdem wüsste ich nicht wem ich davon berichten sollte.«
»Ihr erster Besuch in Paris?«
»Mein zweiter …«
»… aber nicht Ihr letzter?«
»Wer weiß.«
»Eine Liebe?«
»Eine gestohlene Vergangenheit.«
»Adieu Tristesse, bonjour l'Extraordinaire«, rief Benoît nun laut und begeistert aus und warf impulsiv die Arme in den Himmel. Das Kaleidoskop hatte sich neuerlich gedreht. »Eine gestohlene Vergangenheit«, repetierte er, als lese er die Speisekarte eines Sternerestaurants. »Für Sekunden hatte ich befürchtet, Sie würden mich letztlich doch noch enttäuschen, mich mit der Trivialität einer gewöhnlichen Liebe langweilen. Eine gestohlene Vergangenheit«, sagte er voller Glückseligkeit noch einmal vor sich hin und drängte Jo mit der Erzählung zu beginnen.
»Das ist eine längere Geschichte«, gab Jo zu bedenken.
»Zeit habe ich soviel Sie wollen!«, antwortete Benoît, vollführte mit dem Stock eine Bewegung, als fegte er schmutziges Geschirr vom Tisch, um dem Nachtisch Platz zu schaffen.
Jo hob stockend an, hielt je und je inne, um sich zu versichern, ob Benoît weiter zuhören mochte. Je länger Jo sprach desto mehr kam die Rede in Fluss, seine Pausen wurden weniger. Hatte er zu Beginn eher in groben Zügen berichtet, sachlich noch dazu, wurde die Schilderung, durch die Attitüde seines Zuhörers befeuert, im Fortgang zunehmend detailverliebter. Nach und nach offenbarte er die Geschichte, von seinem Nachbar nicht ein einziges Mal unterbrochen. Jo war es, als durchlebte er die Begegnung des Vorabends ein zweites Mal, als würde sie durch die Erzählung davon wahrer, als streifte sie das Stigma der Phantasterei dadurch endgültig von sich ab.
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