»Ich weiß, dass Du das kannst. Dieses Buch wird Dir dabei helfen«, entgegnete Pater Frédéric nachdrücklich.
»Nein! Das kann ich nicht!«, sagte Jo vehement.
Eine einzelne Wolke schob sich über den Himmel, verdeckte für Sekundenbruchteile Sterne und Mond, tauchte die Bank in absolute Finsternis. Als die Nacht wieder von Gestirnen am Firmament erleuchtet wurden, der Nachtwind die einsame Wolke mit sich genommen hatte, war sein Schatten mit ihnen gegangen. Nur ihre Silhouetten glitten zu zyklopischen Riesen verzerrt über die Hauswände am Ende des Platzes.
Schwer atmend lehnte sich Jo an den Kastanienbaum in seinem Rücken, in dessen Stamm sich noch ein Rest Sonnenglut gespeichert fand. Wohlig breitete sich die Wärme im Körper aus, seine Gedanken kreisten um die vorangegangene Stunde, das Buch als stilles Memorandum in seinen Händen. Minuten verstrichen, bevor er das Wort an Pater Frédéric richtete.
»Wie soll das gehen, die Vergangenheit zurück bringen, das ist unmöglich! Zeit ist exakt wie Mathematik, ist ein sich im Takt der Sekunden fortschreibendes Kontinuum, im ewigen Rhythmus folgt eine Sekunde der anderen. Sie kommen und gehen, versinken unwiederbringlich in den Schlund der Zeit. Ergo, die Vergangenheit zurück zu bringen ist eine Unmöglichkeit«, sagte Jo aufgeregt und gestikulierte wild mit den Händen.
»Ich fürchte diese chronologische Zeit ist nicht die, von der ich gesprochen habe«, entgegnete der Priester ruhig.
»Aber es gibt doch nur diese Eine!«, ereiferte sich Jo.
»Es gibt die Zeit, die in Sekunden, Minuten oder Stunden, in Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren gemessen wird - dies ist die äußere Zeit. Und es gibt die Zeit, die aus Momenten und Augenblicken besteht - dies ist die innere, die gefühlte Zeit. Manches Mal sind sie untrennbar wie siamesische Zwillinge. Häufig jedoch sind sie wie Wüste und Meer, sie sind reich an sich und gleichzeitig arm am anderen. Zuzeiten besteht ein Augenblick nur noch aus Augen Blicken und sieht vorüberziehende Sekunden nicht mehr. So wie die Erde Wüste und Meer benötigt um im Gleichgewicht zu bleiben, so braucht der Mensch äußere und innere Zeit. Die Eine ermöglicht die Existenz in der menschlichen Gemeinschaft, die Andere füllt diese Existenz mit Leben.« Pater Frédéric unterbrach seinen Redefluss für einige Sekunden, dann fuhr er unvermittelt fort. »Soweit ich verstanden habe, wurde sein Gedächtnis auf unvorstellbar grausame Art und Weise eliminiert.« Wieder stoppte er. »Hast Du seinen Kopf angesehen?«, fragte er, scheinbar an niemanden gewandt, denn er fuhr sogleich fort. »Die Schläfen sind voller violett-bläulicher Narben. Seine Vergangenheit mit all seinen Erinnerungen fein säuberlich ausradiert, als hätte es sie nie gegeben. Einfach weg. Und damit der Boden auf dem die Gegenwart steht. Er existiert nur noch, eine Sekunde nach der anderen. Ohne festen Grund unter den Füßen aber versinkt sein Leben langsam im Orkus der Zeit - wie Du es so treffend genannt hast -, immer weiter im steten Takt der Sekunden. Dem Anschein nach unaufhaltsam.«
»Und nun?«
»Du bist wohl seine letzte Hoffnung Jo, der letzte Faden.«
»Ich?«, rief entsetzt Jo aus mit dem Finger auf seine Brust deutend. »Unmöglich! Warum soll ausgerechnet ich, Jo Boeger, ihm helfen können? Und wie?«
»Die Antworten auf Deine Fragen stehen in diesem Buch.«
»Sie haben es gelesen?«
»Ja.«
»Was steht drin?«
»Das musst Du selbst lesen, mein Sohn.«
Pater Frédéric bat Jo noch ein letztes Mal zu helfen, dann erhob er sich und schritt langsam von dannen. Jo aber blieb auf der Bank sitzen. Ratlos nachsinnend. Lange. Wie gern hätte er diese Bitte ausgeschlagen, wäre leichten Herzens aufgestanden, zum Auto zurückgeschlendert, nach Hause und in die Normalität des Alltag zurückgekehrt. Aber er konnte es nicht, brachte es einfach nicht übers Herz. Er konnte die Erlebnisse der letzten Stunden nicht ungeschehen machen, brachte die Bilder nicht mehr aus seinem Kopf. Längst war die Wärme aus dem Stamm entwichen, Kälte in Holz und Glieder gekrochen, als Jo sich letztlich doch erhob, um sich auf den Weg zu seinem Wagen zu machen.
»Warum immer ich?«, lamentierte er unaufhörlich vor sich hin, »Nein … Nein … Nein. Ich darf doch auch mal Nein sagen!«
Der VW stand verlassen inmitten des großen Parkplatzes, der nun viel größer wirkte als am Nachmittag. Das Verdeck glänzte feucht, die Scheiben waren beschlagen. Er öffnete die Tür, warf das Buch auf den Beifahrersitz, setzte sich hinters Steuer, drehte den Zündschlüssel und startete den Motor. Pfeifend nahm die Lüftung ihren Dienst auf, Instrumente und Schalter glimmten schwach, ein leises Surren kündete vom Einziehen einer Kassette in den Spieler. Jo drehte erneut den Zündschlüssel, das Surren stoppte, synchron erstarb das tuckernde Motorengeräusch. Kurzerhand öffnete er das Verdeck und schaute in den sternhellen Nachthimmel. Nun sah er, was er am Nachmittag nicht hatte sehen können. Die Finger tasteten nach dem Radio und starteten die Wiedergabe.
›Doch jetzt tut's nicht mehr weh, nee jetzt tut's nicht mehr weh … es ist vorbei bye, bye Junimond.‹
Rio Reiser sang und sang, vom Lieben, vom Zauberland, von Sternen und Mond, von der Nacht und Jo träumte sich mit offenen Augen den Sternen entgegen. Sekunden kamen und gingen, die Zeiger der Uhr drehten sich unermüdlich im Kreis, die Zeit ging, für Jo war es ein einziger Augenblick der blieb.
›Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir?‹ fragte Rio Reiser nun zum x-ten Mal und Jo fragte mit belegter Stimme mit. Nein, die Welt wollte er nicht retten, aber ein Geist in der Flasche oder ein Loch in der Natur wollte er auch nicht sein. Er richtete sich im Sitz auf, langte das Buch vom Beifahrersitz, knipste das Lichtlein über dem Rückspiegel an, überblätterte mit zittrigen Fingern die bekannten Zeilen und begann im schwachen Funzellicht zu lesen.
Wie von einer Meute Jagdhunden gehetzt flogen seine Augen über den ersten Absatz. Schneller immer schneller hasteten sie vorwärts, Absatz für Absatz bis zum Ende der Seite. Für eine Sekunde hielt die Hatz inne, die Augen verharrten ungläubig auf dem letzten Punkt. Nein, nein, das konnte nicht sein. Wie konnte derjenige das wissen? Davon wissen konnten nur diejenigen, die dabei gewesen waren. Wer war dieser Autor, dieser Nathan Messner?
Die Finger zitterten wie erfrorenes Laub in einem Wintersturm, gefühllos und steif geworden blätterten sie die hinteren Umschlagklappe des Buches auf. Dort prangte unter einem kurzen Text das Konterfei des Autors. Der Blick gefror zu Eis, die Hände konnten das Buch nicht mehr halten, es entglitt und stürzte hinab in den Fußraum. Nur einen Wimpernschlag später krümmte sich Jo unter einem stechenden Schmerz. Die Wunde im Inneren, sie blutete wieder, ein Vierteljahrhundert danach - die Zeit hatte sie nicht geheilt.
Die Schultern eng zusammengezogen, die Arme angewinkelt, die Hände krampfhaft ums Lenkrad geklammert, kauerte Jo hinterm Steuer. Der Wind zerrte an Haaren und Kleidung, brauste lausig kalt um seinen Kopf und er starrte finster in die sternklare Nacht. Das musste, das konnte nur ein böser Traum sein. Das Gaspedal durchdrücken, das Lenkrad gerade und die Augen offen halten, mehr gab es nicht zu tun. Rio Reiser sang traurigschöne Klagelieder als Endlosschleife, Jo hing finstertrüben Gedanken nach. Metz, Verdun, Reims, Chalôns sur Marne flogen unbeachtet vorüber. Jo fuhr und fuhr und fuhr, zunächst wie benommen, später wie rasend. Ohne Ruhe, ohne Rast schnurte der Käfer durch französische Provinzen, dem Elsass folgten Burgund und die Champagne. Rechts und links schlummerten Dörfer oder kleine Städte im tiefen Schwarz, die ganze Welt schien zu schlafen um diese Zeit. Jo konnte, Jo wollte nicht schlafen in dieser Nacht. Er wollte fahren, weiter immer weiter, bis er endlich den Rand der Scheibe erreichte. Galilei hatte gelogen, wie ihn alle angelogen hatten, wider besseren Wissens. Ausnahmslos. Seine Frau Marleen, sein angeblich bester Freund Frank, allen voran Anna und Elias.
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