1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 »Nathan Messner?«, fragte Jo unsicher geworden.
So zögerlich die Tür eben noch geöffnet worden war, so wild entschlossen wurde sie ihm nun vor der Nase zugeknallt. Wortlos, dafür mit umso mehr Ressentiment und Schwung. Die Wucht dieser Feindseligkeit schleuderte Jo förmlich auf die Straße zurück. Wie vor den Kopf geschlagen stand er in der Lücke zwischen zwei klapprigen Fahrzeugen. Die Tür flog auf, Jo zuckte einen Schritt rückwärts, im Rahmen erschien ein weiteres Mal das Gesicht der jungen Frau, in Zornesröte entflammt.
»SALPÊTRIÈRE!«, schrie sie und ein sardonisches Grienen verzog ihre Züge, gefolgt von einem Schwall galliger Worte, die keiner Übersetzung bedurften. Hass, abgrundtiefer Hass spricht alle Sprachen. Immer dunkleren Niederungen zu stieg das Krakeel in seinem Rücken, peitschte ihn förmlich der Haltestelle der Untergrundbahn zu. Noch als Jo längst ihrer Sicht entzogen war, ging das Zetergeschrei mit unverminderter Heftigkeit weiter. Ein Damm war gebrochen, aufgestaute Gewalten brachen sich wortmächtig Bahn und niemand war zugegen, ihnen Einhalt zu gebieten. Egal wem die Schimpfworte galten, sie trafen seinen Rücken, machten ihn gemein mit dem Täter, machten ihn zu seinem Alter Ego.
Und tatsächlich, zum ersten Mal seit Jo von Nathan Messner wusste, empfand er so etwas wie Verbundenheit mit ihm. Er war kein enger vertrauter Freund – nein, das war er nicht. Er war auch kein Bruder - nicht im Geiste, nicht im Fleische. Nathan Messner war derjenige mit dem Jo eine enge Lebens- und Schicksalsgemeinschaft bildete.
Endlich waren die Räume des Untergrundes erreicht. Gerüche, Geräusche, Menschen - alles wimmelte, alles wuselte, hin und her, kreuz und quer. Oh wie wohl tat die Lebendigkeit dieses Gewusels. Seit gut zehn Minuten stand Jo an dessen Rand, in Reiseführer und Stadtplan stöbernd. Eine Salpêtrière konnte er nicht finden und die Versuche einen Passanten zu fragen, hatten ihm bislang nur wissendes Schmunzeln verschiedenster Couleur eingebracht, stehen geblieben war niemand. Entnervt ließ Jo den Plan sinken - kein Hinweis zu finden. Ein Strom Menschen ergoss sich aus dem Röhrensystem in den Vorraum.
»Salpêtrière?«, fragte Jo in die vorbeiströmende Menge hinein. Aber auch diese Saat blieb fruchtlos. Wieder blieb niemand stehen, wieder beschränkte sich die Ernte auf schmunzelnde Gesichter. Eine afrikanischstämmige junge Frau scherte aus dem Strom aus, näherte sich zielstrebig. Ein Baby hing ihr vor der Brust, ein Kleinkind trippelte an der Hand neben ihr her. Jo wich ungewollt einen Schritt zurück.
»Salpêtrière?«, fragte sie.
»Oui!«, antwortete Jo überrascht.
»Français?«
»Non!«
Ohne großes Aufhebens zog sie Jo vor den großen Metroplan und deutete auf eine Station. »Glacière«, las Jo und die junge Frau nickte lächelnd.
»Saint-Anne, Rue Cabanis«, sagte sie, als diktiere sie es Jo ins Notizbuch, verschob den Finger ein minimales Stück, über einem cremegelben Punkt in einer cremegelben Fläche zuckte er ein klein wenig zurück, schnellte auf die Karte pochend vor, zuckte zurück, schnellte pochend vor, zuckte zurück, schnellte pochend vor. Tokk … Tokk … Tokk. Lag es dort wirklich, das Ende seiner Suche? In Montparnasse, im Dreieck der Stationen Glaciere, Cité Universitaire, Maison Blanche. Und was würde er finden? Den Anfang seines Lebens? Das Ende seines persönlichen Regenbogens? Daran, dass ihn auch etwas ganz anderes erwarten könnte, wagte er noch nicht einmal ansatzweise zu denken.
Schwerlich nur löste Jo seinen Blick von dem Plan. Es galt eine Entscheidung zu fällen. Hier und jetzt war seine letzte Chance auszusteigen. Benoît's mahnende Worte drängten heran. »Fahren Sie nach Hause, solange die Wahrheit noch Platz für Träume lässt. Kehren Sie um, derweil Sie noch wegzusehen vermögen. Wachen Sie auf, bevor aus Ihrem Traum ein Alptraum wird!«
Nein, eine Wahl gab es nicht mehr, für den Ausstieg war es zu spät, der Zug fuhr und er würde sitzen bleiben. Bis zur Endstation, bis zum Depot, wenn es sein musste.
»Monsieur!«, riss ihn eine piepsige Stimme aus den Gedanken und eine kleine Hand zupfte aufgeregt an seinem Hosenbein. Jo wandte den Kopf und die Metrostation erwachte aus ihrem Dornröschenschlaf. Alles wimmelte, alles wuselte, hin und her, kreuz und quer - Gerüche, Geräusche, Menschen. Jetzt nur in entgegengesetzter Richtung, in das System der Röhren hinein. Schon war das Rattern der einfahrenden Métro zu vernehmen.
»Allez! Vite!«, riefen Mutter und Tochter und Jo sprintete los, dem Strom Menschen hinterher. Hinter dem Drehkreuz hielt er kurz inne. »Merci!«, brüllte Jo über die Köpfe der letzten Nachzügler hinweg und ehe er sich versah schwenkte auch er seine Hand hin und her, hoch in der Luft.
Goncourt … République … Arts et Métiers … Rambuteau. Bahnhof folgte auf Bahnhof. Hotel de Ville … Châtelet. Hier musste er umsteigen, in die Linie 4 Richtung Porte d'Orléans. Das schien ihm die schnellste Verbindung zu sein. Mit den Augen eilte Jo die Linie entlang, die Stationen zählend. Bei 7 endete die Zahlenreihe abrupt. »Vavin«, las er halblaut vor sich hin. Vavin, das hatte er doch schon einmal gelesen oder gehört heute. Nur wo? In welchem Zusammenhang? Benoît? Hatte er nicht etwas dergleichen im Gespräch erwähnt? Später, dafür war auch später noch ausreichend Zeit. Jetzt galt es möglichst schnell in die Rue Cabanis zu gelangen, nach Saint-Anne. Jo nahm sein Tun wieder auf, brachte die Planung zielstrebig zu Ende und eine gute Viertelstunde später näherte er sich in schnellen Schritten seinem Ziel. Zur Linken die Straße von Bäumen bestanden, hübsch indes nur der Baumbestand, die Straße selbst von dieser Titulierung weit entfernt. Hinter hohen Kastanien ragten um ein vielfaches höhere Wohnkasernen in den Himmel. Fenster reihte sich an Fenster, Zeile über Zeile, Gebäude an Gebäude soweit das Auge reichte. Zur Rechten dasselbe ohne Grün. Eine Straßenkreuzung, gegenüber ein parkähnliches Anwesen, über der Mauerkrone linste der Dachfirst einer Villa durch dichtes Blattwerk. Angespannt überquerte er die Rue, ging an der hochragenden Mauer entlang. Ein klassizistisches Portal, ein schmiedeeisernes Tor, ein schattiger Kiesweg hinein in den Park und endlich auch die baumbestandene Allee. Jo schnaufte erleichtert durch, tief, mehrfach, ein flüchtiges Strahlen huschte über sein Gesicht. Er konnte nicht umhin, die Hand über den hellen, glatten Stein streichen zu lassen. Alles würde gut werden jetzt. Entschlossen schob er das Tor auf und tat einige erste Schritte in den Park. Linker Hand ein flacher Pavillon, aus wesentlich neuerer Zeit als die übrigen Gebäude. In der kalten Modernität aus Stahl und Glas wollte er sich so überhaupt nicht in das Ensemble der historischen Gemäuer einfügen. Im Inneren saß ein Pförtner, wachsam jede Bewegung verfolgend.
»Nathan Messner?«, fragte Jo durch die Luke in das Aquarium hinein, worauf der Mann begann, überaus geschäftig in einem großen Folianten zu blättern. Die Stirn von Gewissenhaftigkeit in tiefe Falten gelegt, die Augen vor Eifer funkelnd, huschten flinke Finger über eng beschriebene Seiten, voller Zeilen und Spalten, voller Namen und Kürzel. Eine Buchhaltung! Eine Buchhaltung wovon?
Die suchenden Augen waren wohl fündig geworden. Sie folgten dem Zeigefinger nach rechts bis dieser stoppte, zitternd auf einem Feld verharrte, kniffen sich eng zusammen, als die Stirn sich in immer tiefere Falten legte, der Mann sich geräuschvoll räusperte, blieben noch aufs Papier gesenkt, als er einen Satz hervorstieß. Hastig. Knapp. Kaum mehr als zwei oder drei Worte konnten es gewesen sein. Nur zögerlich sahen die Augen von den Papieren auf, suchten Jo's. Der Blick eines Arztes, der hängenden Kopfes aus dem Not-OP trat und mit dem Körper mehr sprach als der Mund zu sagen vermochte.
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