Also bleiben wir noch eine kurze Weile bei dem uns verfügbarem Wissen. Es wird uns versichert, daß die Neu–Inder sich „Arier“ genannt haben und die mitgebrachte Sprache dieser „Arier“ „Sanskrit“ gewesen ist. Sanskrit gilt allseitig als die am besten geordnete Sprache. Weil aber Sanskrit sonst nirgendwo gefunden worden ist, so wird logisch gefolgert, müssen wohl die nomadisierenden „Arier“ in Zentralasien eine einfachere Form von Sanskrit gesprochen haben. So wird uns erzählt. Diese einfachere Form, das frühe Sanskrit, Sanskrit im Kindesalter etwa, wird das „Protosanskrit“ genannt. Dieses frühe Sanskrit also breitet sich aus. Dieses „Protosanskrit“ nehmen die „Arier“ aus der Steppe Zentralasiens auch nach Westen mit. Klingt absolut logisch, nicht wahr? Aber es bleibt nicht in seiner ursprünglichen Form. Mit der Zeit und durch die Berührung mit anderen Sprachen im unterschiedlichen Erdteil haben sich Sprache und Kultur der „Arier“ unterschiedlich weiterentwickelt. Aber die Verwandtschaft ist natürlich geblieben. Sowohl in der Sprache und auch sonst. So wird uns erzählt. Eine einleuchtende Erzählung.
Es soll hinreichend nachgewiesen sein, daß zwischen Sanskrit, der Sprache der nordwestindischen „Arier“ einerseits und Griechisch, Latein, germanischen und keltischen Sprachen andererseits, eine enge sprachliche Verwandtschaft besteht. Die Familie der „indoeuropäischen“ Sprachen, sozusagen. Und wer diese Verwandtschaft erkannt und nachgewiesen hat? Nicht die „Arier“, die über den Hindukush nach Nordwestindien passierend ihre weltbekannten Schriften, – Veden, Upanishaden, Puranas, Sutras, usw. – verfaßt und sich in ihnen als „Arier“ verewigt haben sollen. Nein. Sie haben in ihren vielen Schriften nicht einmal erwähnt, daß ihnen ihr „Lebensraum“ einst zu eng geworden ist und viele ihrer Brüder, Schwestern, Kusinen und Vettern wie sie selbst auch, auf der Suche nach neuem „Lebensraum“ gewesen und auch anderswo eingewandert sind. Nein. Die „Sanskrit–Arier“ haben keine Erinnerungen mehr, außer daß sie „Arier“ gewesen sein sollen. Ein absolutes „black-out“, was dies angeht. Reklamiert wird die Verwandtschaft durch die entfernten Kusinen und Vettern aus dem „Abendland“. Als sie mittendrin auf Beutepfad im „Morgenland“ sind. Sie rauben zwar Indien aus, schleppen alles weg, was nicht niet– und nagelfest ist, besetzen das Land und beuten es dauerhaft aus. Aber sie bescheren ihren entfernten Kusinen und Vettern zunächst die „Sprachverwandtschaft“ und dann die „Sprachwissenschaft“. Dieser „Wissenschaftszweig“ hat auch den Begriff „Sprachfamilie“ erfunden, aber erst im 19. Jahrhundert nach Chr., genauer zwischen dem Ende des 18. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts.
Begriffe wie Familie und Verwandtschaft aber, auch wenn sie in Zusammenhang mit Sprachen kreiert werden, entwickeln ihre Eigendynamik. Der „abendländische“ Erfindergeist ist auch damals rege gewesen. Wenn also, haben die weitläufigen Verwandten aus dem „Abendland“, eher Vettern als Kusinen, gedacht, wenn also ihre Sprachen einen gemeinsamen Ursprung haben, dann gehören sie auch zur gleichen Familie, dann besteht doch auch eine „Blutsverwandtschaft“, selbst wenn sie durch die Jahrhunderte in Vergessenheit geraten ist. So wird der „Arischen Sprache“ kaum fünfzig Jahre später die „Arische Rasse“ hinzugefügt. Und uns werden auch noch weitere „Wissenschaftszweige“ beschert. Die Ethnologie, die Anthropologie, die Psychologie, die Psychoanalyse, usw.
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In der Encyclopaedia Britannica1995 lesen sich diese Erfindungsvorgänge so: „ Während des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Theorie einer ‚Arischen Rasse‘ – besonders emsig propagiert durch den Comte de Gobineau und später durch seinen Jünger (disciple) Huston Stewart Chamberlin –, die ‚Indoeuropäische‘ Sprachen sprechend, alle fortschrittlichen Errungenschaften für die Menschheit bewerkstelligte und moralisch überlegener war als die ‚Semiten‘, ‚Gelben‘ und ‚Schwarzen‘. Die ‚Nordischen‘ und die ‚Germanischen‘ Völker wurden als besonders reine ‚Arier‘ angesehen. Eine Theorie, die im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts von Anthropologen zurückgewiesen worden ist, die aber Adolf Hitler und die Nazis ergriffen hatten und zur Liquidierung von Juden, Zigeunern und anderen ‚Nicht–Ariern‘ durch die Deutsche Regierung als Grundlage diente. “
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hat aber bewiesen, daß diese Zurückweisung der „Arischen Theorie“ durch Anthropologen keinerlei Wirkung gehabt hat. Hätten die Anthropologen, Historiker, Indologen, Politologen und Sozialwissenschaftler dieser Kultur nicht auch aus ihrer eigenen beruflichen Erfahrung heraus wissen müssen, daß eine bloße Zurückweisung eher bestätigend wirkt? Hätten sie nicht als Macher einer „Mediengesellschaft“ wissen müssen, daß „Dementis“ das Gesagte verstärken? Was haben die Anthropologen oder Vertreter anderer neuen Wissenschaften unternommen, nachdem feststand, daß die Zurückweisung der Theorie über die angebliche Überlegenheit der „Arischen Rasse“ nichts gefruchtet hat?
1990 wird vom „Max Mueller Bhawan (Haus)“ in Neu Delhi die zweite revidierte Ausgabe der Biographie deutscher Indologen herausgegeben. Die deutsche Kulturvertretung heißt in Indien nicht „Goethe Institut“, sondern sinnigerweise Max Mueller Haus, genannt nach Friedrich Maximilian Müller. Auf ihn kommen wir noch ausführlich zurück. Diese revidierte Ausgabe enthält 130 Biographien deutscher Indologen, die durch Veröffentlichungen über die frühe Geschichte Indiens auffällig geworden sind. Der letzte in dieser „Ahnengalerie“ ist 1931 geboren. Es ist nicht so, daß es danach keine Indologen mehr gegeben hat. Es wird in Deutschland und auch anderswo noch emsig „geforscht“. Viele Bücher werden gedruckt. Die „Arische Rasse“ lebt.
Helmuth von Glasenapp (1891–1963) hat viel über Religion und Philosophie geschrieben. Hohe Auflagen. Wir zitieren aus einer „ungekürzten Taschenbuchausgabe“, gedruckt 1997 als 6. Auflage, seines 1963 erschienen Buches: Die fünf Weltreligionen . Das Judentum hat er nicht dazu gezählt. Wir lesen auf Seite 29 unter der Überschrift „Die geschichtliche Entwicklung“: „ Die alte Stadt Prayāga (d. h. Opferstätte), welche die Mohammedaner mit dem uns geläufigem Namen ‚Allâhâbâd‘ (Wohnsitz Allâhs) belegten, ist der heiligste Ort Indiens, weil sich hier die beiden heiligen Ströme Ganges und Yamunā vereinigen. Das ist sinnbildhaft für den Hinduismus: er ist seinem Wesen nach selbst gleichsam der Vereinigungspunkt von zwei großen Entwicklungsströmen, die, aus verschiedenen Ursprüngen stammend, für ihren weiteren Lauf zu einer neuen Einheit verschmolzen: der eine dieser Ströme ist das Ariertum, das vor vier Jahrtausenden aus dem Norden nach Indien eindrang und es in sprachlicher und kultureller Hinsicht weitgehend umgestaltete, der andere Strom wird durch das bodenständige Element repräsentiert, das, in sich vielgestaltig, schon vor der arischen Einwanderung in Indien saß und bis heute seine Eigenart zu behaupten gewußt hat. Der schöpferischen Synthese dieser beiden Komponenten verdankt die indische Kultur ihre Entstehung; durch sie erhielt die indische Religion ihre einzig in der Welt dastehende Ausprägung. “
Ist das nicht hübsch, leichtgängig und einleuchtend geschrieben? Unter der Überschrift: „Die vorarische Zeit“ lesen wir auf Seite 31: „ Die älteste Geschichte Indiens ist uns heute noch ein Buch mit sieben Siegeln. Ethnographen nehmen an, daß die ältesten Bewohner des vorderindischen Kontinents, der allerdings damals noch nicht seine heutige Gestalt hatte, Negride gewesen sind, die zu ihren Stammesgenossen in Afrika und Melanesien in räumlichem und genetischem Zusammenhang standen. Diese sollen dann durch aus dem Norden kommende Europide nach dem Süden und in abgelegene Gebiete abgedrängt und allmählich aufgesogen worden sein, so daß sie heute nicht mehr in reinem Zustande vorhanden sind. Unter den Europiden, die, in mehreren Wellen vorrückend, in dem weiten Lande ihren Wohnsitz nahmen, repräsentierten den am meisten entwickelten Typus die Vorfahren der heute noch im Süden dravidische Sprachen redenden grazilen braunen Völker. ... Noch vor fünfzig Jahren (also um 1913) ging die herrschende Ansicht dahin, daß erst die Arier eine höhere Kultur und Religion nach Indien gebracht hätten, daß die vorarischen Bewohner des Gangeskontinents aber kulturarme Primitive gewesen seien. Diese Vorstellung änderte sich von Grund auf durch die großen archäologischen Entdeckungen, die seit den Jahren 1921/1922 im Indusgebiet gemacht worden sind. In Mohenjo Daro (in der Landschaft Sindh) und in Harappa (im Panjâb) wurden damals die Ruinen großer Städte freigelegt. Die dort gefundenen geräumigen Bauten, kunstvollen Werkzeuge und formschönen Plastiken verraten einen Stand der Kultur, der dem der nur in Dörfern wohnenden Arier, die noch keine ausgebildete Technik und Kunst besaßen, hoch überlegen war. Diese sogenannte Induskultur weist eine auffallende Ähnlichkeit mit der gleichzeitigen Kultur Vorderasiens auf, trägt andererseits aber wieder so individuelle Züge, daß sie nicht als bloßer Ableger derselben betrachtet werden kann, sie ist deshalb als ein selbständiges Glied der internationalen Weltkultur des 3. Jahrtausends anzusehen. ... Während einige Forscher die Indusleute für Indogermanen halten, die nicht dem arischen Zweige, sondern einer älteren Gruppe dieser Sprachfamilie angehörten, nehmen die meisten an, daß sie Vorfahren der Draviden waren und als solche zu den Sumerern und vor–indogermanischen Mittelmeervölkem in nähere Beziehung zu setzen sind. “
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