Charlotte seufzt und verdreht die Augen. "Liebe Tante Carla", das sagte sie sehr akzentuiert, "mit dem kann man sich nicht vertragen , wie du es nennst. Entweder man macht, was er will, oder man ist sein Feind. Dazwischen gibt es nichts. Dein Bruder ist ein selbstgerechtes, ignorantes Arschloch - genauso wie Opa es war. Er allein ist im Besitz aller selig machenden Wahrheiten, und wenn etwas nicht nach seiner Nase geht, ist man auf jeden Fall im Unrecht. Bin froh, wenn ich zuhause raus bin. Verstehe nicht, wie Mama das mit ihm aushält." Aggressiv stopft sie sich das letzte Stück ihres Hefeteilchens in den Mund, bemüht sich, die Menge möglichst rasch zu zerkauen, und schluckt.
Shira schluckt ebenfalls, allerdings nur das Wasser, das ihr im Maul zusammengelaufen ist, während sie die Köstlichkeit in Charlottes Hand nicht aus den Augen gelassen hat. Doch nun ist auch ihr wohl endgültig klar, dass sie davon keinen Bissen mehr abbekommen wird.
"Tja", gebe ich zu, "mit Darius auszukommen ist schon nicht leicht."
Sie nickt. "Das kannst du laut sagen. Er versteht einfach nicht, dass ich etwas Kreatives tun muss, dass ich in einer Bank oder in einem Büro ersticken würde. Nein, ich will nicht so werden wie Papa. Ich werde mein Ding durchziehen, da kann er sich auf den Kopf stellen. Und ich werde es schaffen, das weiß ich." Und nach einer kurzen Pause: "Jura", sie tippt sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe, "hat er mir als Alternative angeboten. Das würde er wohlwollend unterstützen, hat er gesagt. Wenn ich den Leuten schon nicht als Anlageberaterin das Geld aus der Tasche schwatze, soll ich wenigstens die Ferkel verteidigen, für die das Abzocken ihrer Mitmenschen kein Problem ist, und die ihren Kunden gnadenlos und wissentlich unsichere Papiere andrehen - nur um des eigenen Profits wegen. Soll ich etwa so etwas machen? Nee, mit so was will ich nichts zu tun haben." Sie schüttelt energisch den Kopf. "Ich werde zuhause ausziehen und sehen, dass ich mich finanziell unabhängig von ihm mache."
"Und wie willst du das anstellen?"
Ein kurzes Zucken mit den Schultern. "Mich um ein Stipendium bemühen. Neben dem Kneipenjob noch eine andere Stelle suchen. Im Supermarkt, als Putze oder so was. Keine Ahnung, ganz egal. Ich sehe schon die Zeitungen nach Anzeigen durch. Bis ich irgendwo an einer Schauspielschule angenommen werde, kann es ja noch dauern. Aber erst schon mal zu ein paar anderen Leuten in eine WG ziehen. Ich kenne da eine, in der gerade ein Zimmer frei ist. Nicht teuer. Muss Papa mir eigentlich nicht das Kindergeld geben, wenn ich nicht mehr zuhause wohne? Das würde auf jeden Fall für die Miete reichen."
"Mit Kindergeld und was davon wem zusteht kenne ich mich nicht aus. Ich denke aber, dass er dir bei seinem Gehalt, auch wenn ihm die Richtung nicht unbedingt passt, zumindest eine erste Ausbildung finanzieren wird. Wenn sich herumspräche, dass er seine einzige Tochter hängen lässt, wäre das schlecht für sein Image. Kann mir nicht vorstellen, dass ihm das recht wäre."
"Meinst du? Na, das wäre ja schon mal passend." Sie grinst. "Finanzielle Zuwendung aus Eitelkeit. Und ich würde es nehmen, wenn es mir zusteht - Unabhängigkeit hin oder her."
"Weißt du schon, bei welcher Schauspielschule du dich bewerben willst?"
"Essen? Bochum? Hamburg? Überall vermutlich."
"Hm - wenn sie dich in Hamburg nähmen, könnte ich mit Marianne sprechen. Sie kennt dort oben eine Menge Leute, von denen dir vielleicht der eine oder andere mit seinen Verbindungen helfen kann. Und ich hatte sowieso vor", ich räuspere mich, "dir jetzt nach dem Abitur und dem Führerschein das Sparbuch zu geben, das ich bei deiner Geburt angelegt habe. Da ist inzwischen ein hübsches Sümmchen drauf. Ein kleines, gebrauchtes Auto ist sicher drin, Steuern und Versicherung wären dann mein Beitrag zu deinem Lebensunterhalt."
Charlotte reißt die Augen auf. "Ein Sparbuch? Für mich? Davon weiß ich ja gar nichts!" Sie stürzt auf mich zu, küsst und herzt mich. "Ach Carla, du bist - du bist die beste Tante, die ich je hatte."
Lachend versuche ich, mich ihrer heftigen Liebesbekundungen zu erwehren. "Ja, ja, ich weiß. Bin ja auch die einzige."
Meine Mutter hat die Verantwortung für Shira übernommen - wie immer, wenn ich für ein paar Tage unterwegs bin. Sie gießt meine Blumen, zieht die Rollläden morgens rauf, lässt sie abends wieder herunter und leert meinen Briefkasten. Außerdem finde ich jedes Mal nach meiner Rückkehr meine gesamte Wäsche sauber und gebügelt im Schrank. Das ist angenehm, und es macht mir kein schlechtes Gewissen, denn damit befriedigte sie allem Anschein nach auch eigene Bedürfnisse und kommt sich nach dem Tod meines Vaters nicht allzu nutzlos vor. In gewisser Weise tue also auch ich ihr etwas Gutes, denn sie kann sich nützlich und gebraucht fühlen.
Ich bin ein wenig erschöpft von der Klassenfahrt. Mutter hat mich mit Rahmwirsing und frischer Bratwurst versorgt, und wir sind während des Essens ins Plaudern gekommen. Darius hat sie - so selten das zu Mutters Bedauern auch vorkommt - mal wieder besucht und unter anderem mit ihr über Charlotte geredet.
"Schauspielerin!" Ihr Blick wandert verächtlich zur Zimmerdecke. "Es gibt weiß Gott genügend Schauspieler, die nicht wissen, wie sie ihre Miete bezahlen sollen. Das ist doch nichts Handfestes, nichts Sicheres. Also - nein, ich bin auch dafür, dass sie erst einmal eine Banklehre bei Darius macht oder Jura studiert. Später kann sie immer noch sehen, aber dann hat sie wenigstens einen ordentlichen Berufsabschluss in der Tasche. Willst du noch Nachtisch?" Sie erhebt sich von ihrem Küchenstuhl und holte eine Packung Brombeer-Eis aus dem Gefrierschrank.
Ich lasse meine Gabel auf den leer gegessenen Teller fallen, schiebe ihn ein Stück von mir weg und streiche demonstrativ über meinen Bauch. "Eigentlich bin ich satt, Mama, aber - na gut - ein Eis wird schon noch reinpassen." Schon wieder eine Gelegenheit zum Nein-Sagen verpasst.
Sie kratzt Eis aus der Packung, knipst jeweils drei Kugeln auf die beiden Glasteller stellt sie vor uns hin und legt Löffel dazu.
"Es ist nun mal ihr Herzenswunsch, Mutter", nehme ich unser Thema wieder auf. "Ich finde sogar, dass sie durchaus Talent hat. Hat sie dir neulich bei der Schulaufführung nicht auch sehr gefallen? Bist ja fast geplatzt vor Stolz über deine begabte Enkelin."
"Ich habe auch nicht behauptet, dass sie nicht genug Begabung hätte. Aber Talent hin - Talent her, was hat sie davon, wenn nicht auch noch eine Prise Glück hinzukommt? Wenn sie niemanden findet, der sie fördert und sie an die richtigen Adressen bringt? Wie heißt es doch so schön? Vitamin B , also Beziehungen muss man haben, und die hat sie nun mal nicht."
"Noch nicht", entgegne ich und löffele das Eis in mich hinein, "ihr erwartet immer zuerst das Negative. Sicher kann man mit seinen Träumen auch Bauchlandungen hinlegen, aber sie gar nicht erst anzupacken kann doch auch nicht der richtige Weg sein, oder? Mir tut es zum Beispiel heute noch Leid, dass ich nicht Archäologin geworden bin, weil Papa etwas dagegen hatte und mich unbedingt in den Schuldienst drücken wollte."
"Immerhin hatte er damals Möglichkeiten, dich zu unterstützen, hat beispielsweise dafür sorgen können, dass du hier in die Nähe versetzt wurdest und nicht irgendwo weit weg gelandet bist." Sie lächelt - offenbar immer noch stolz auf ihren seinerzeit einflussreichen Mann - und gießt uns den frisch aufgebrühten Kaffee ein. "Als Lehrerin bist du inzwischen aber doch auch ganz zufrieden, oder? Manchmal muss man seine Kinder eben zu ihrem Glück zwingen."
"Manchmal sollte man sich aber auch einfach mal etwas trauen und ins kalte Wasser springen", gebe ich trotzig zurück und spüre - sobald ich es ausgesprochen habe, dass ich damit etwas gesagt habe, was mich - höchst aktuell - auch selbst betrifft. Und noch während meine Gedanken sich mit Paul beschäftigen, trifft ihre Frage mich wie ein Geschoss aus heiterem Himmel.
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