Ich beschließe, sie gleich nach der Arbeit im Krankenhaus zu besuchen.
*
Von der Schule aus ist es nur ein kleiner Umweg bis zur Klinik. Unterwegs halte ich kurz bei einem Blumengeschäft, kaufe einen Strauß gelber Rosen und besorge aus der Drogerie nebenan eine Flasche Traubensaft. Lydia hat mir Iris' Zimmernummer genannt, und so muss ich bei der Anmeldung nicht nachfragen, kann durch die Eingangshalle direkt den Aufzug ansteuern. Ich drücke beide Knöpfe - den Pfeil nach oben, auch den nach unten - und warte. Ich mag Krankenhäuser nicht. Sie erinnern mich an den furchtbaren Tod meines Vaters. Diesen starken Mann in einem Klinik-Bett derart vom Krebs geschrumpft und leidend erleben zu müssen, dieses neue, unfassbar reduzierte Bild eines Mannes, der stets seine Familie beherrschte und kaum Widerspruch zuließ, hat mich damals sehr irritiert. Meine Abneigung gegen Krankenhäuser, in denen selbst ehemals kraftvolle Menschen derart hilflos wirken können, ist seither geblieben. Schon der Geruch drückt mir auf den Magen.
Die stählernen Aufzugtüren fahren zur Seite, Menschen kommen heraus, ich gehe hinein.
Iris sieht mir voller Erwartung entgegen. Das Aufblitzen in ihren Augen verschwindet jedoch gleich wieder, und die Mundwinkel verziehen sich zu einem gequälten Lächeln. Sie ist enttäuscht, das ist nicht zu übersehen. Ich kann mir vorstellen, wen sie sich erhofft hat.
Ihre Handgelenke liegen dick eingewickelt auf der Bettdecke, und das Gesicht, umrahmt von künstlichen blonden Kringel-Löckchen, hätte in ihrem Kissen wie das einer Käthe-Kruse-Puppe gewirkt, wären da nicht diese vom vielen Weinen verquollenen Lider.
Ich strecke ihr die Flasche aus dem Reformhaus entgegen. "Hier, etwas Traubensaft. Soll gut sein für die Blutbildung, hat man mir gesagt. Das kannst du jetzt sicher gebrauchen, nicht wahr?" Ich bemühe mich, locker zu wirken, zwinkere ihr zu und lege ihr den Strauß gelber Rosen auf die Bettdecke. "Gibt es hier irgendwo eine Vase?"
Die Frau im Bett nebenan nickt mir grüßend zu, schiebt die Beine auf den Boden, fährt in die Pantoletten und streift ihren Bademantel über. Dann schlurft sie in Richtung Tür, macht einen tiefen Atemzug und sieht mich mit einem Blick an, als wolle sie sagen: Gut, dass mich hier endlich jemand ablöst. "Kleine Zigarettenpause", lächelt sie verlegen, "Vasen finden Sie auf dem Flur - in einem Schrank. Steht dran." Dann ist sie verschwunden.
Im Flur gibt es tatsächlich einen Schrank mit der Aufschrift "Vasen". Ich suche eine passende aus, fülle sie im Krankenzimmer mit Wasser und stelle die Blumen hinein. Iris legt den Arm über die Augen. "Diesmal ist es endgültig, glaube ich." Dann weint sie ein paar Sekunden lang still in ihren Verband. "Das hier", und dabei hebt sie beide Arme an, "wird er mir nie verzeihen können."
Sie richtet sich auf und versucht, die Rolle mit dem Küchenpapier vom Nachttisch zu angeln. Doch die Verbände behindern sie. So reiße ich ein Blatt ab und reiche es ihr.
"Ich hätte nicht gedacht, dass diese Schnitte so verdammt wehtun." Sie schnieft kräftig ins Papier. "Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich plötzlich für eine Panik bekommen hab."
"Doch, kann ich mir vorstellen."
Die letzten Schluchzer rucken durch ihren Körper, und sie putzt sich noch einmal über die Nase, bemüht sich dann um ein zaghaftes Lächeln. "Danke für die Blumen und für den Saft."
Ich hole mir den Stuhl aus der Ecke und setze mich zu ihr ans Bett. Einen Moment lang überlege ich, suche nach Worten. Nicht leicht, in dieser Situation etwas nicht allzu Plattes zu sagen. So gieße ich ihr erst einmal etwas Traubensaft ein und gebe ihr das Glas.
"Gut möglich, dass er dir das nicht verzeiht", sage ich schließlich. "Er ist im Verzeihen sicher nicht so großzügig wie du. Du solltest aber auch mal darüber nachdenken, ob so etwas", und dabei deute ich mit dem Kopf auf ihre Handgelenke, "der richtige Weg ist. So hält man keinen Menschen."
"Weiß ich doch", wimmert sie und trinkt einen Schluck.
Um das Gespräch auf eine eher pragmatische Ebene zu verlagern, frage ich sie: "Wie lange werden sie dich denn hier behalten? Musst du mit diesen Verbänden unbedingt tagelang hier herumliegen? Laufen kannst du doch, oder?"
"Sicher kann ich laufen, aber der Hauspsychologe meint, ich muss so lange bleiben, bis ich nicht mehr gefährdet bin." Sie starrt ins Leere, nimmt dabei noch ein paar Schlückchen Saft. "Er sagt, es könne sein, dass er mich noch in die Psychiatrie schicken muss."
"Wovon hängt das ab?"
"Er meint, er müsse noch ein paar Gespräche mit mir führen, dann würde er darüber entscheiden."
"Gespräche mit einem Psychologen können sicher nicht schaden", sage ich. "Und was meinst du selbst? Würdest du das noch einmal machen?"
Sie zuckt mit den Schultern. "Keine Ahnung. Im Moment ist mir alles scheißegal."
Ich sehe mich einen Moment hilflos im Zimmer um. Himmel, was soll man darauf nur sagen? "Schau mal", beginne ich zögernd, "ich lebe doch nun auch schon lange allein."
"Ja, ja, ja, ich weiß", unterbricht sie mich aggressiv, "für dich ist das ja auch leicht. Du hast ja auch noch nie jemanden wirklich geliebt. Du weißt doch gar nicht, wie solche Gefühle sind!" Die letzten Worte schreit sie fast. Und auch wenn sie damit vielleicht Recht hat, es trifft mich.
Ich senke den Blick und schweige - bis ich fühle, wie sie mit ihrem Verband an meinem Arm entlang streicht. "Ach Carla, verzeih mir, so hab ich es nicht gemeint. Kann sein, dass ich dir ziemlich auf den Wecker gehen werde, wenn ich zu Hause bin." Sie versucht ein müdes Lächeln. "Ich glaube nicht, dass ich das viele Alleinsein ertrage. Jedenfalls am Anfang nicht."
Na, das war doch wenigstens schon mal ein kleines Licht am Horizont. Ich schlucke meinen Anflug von Ärger hinunter, greife den Faden dankbar auf und frage sie augenzwinkernd. "Meinst du, du schaffst es, meine Nerven noch mehr zu strapazieren als bisher?"
Sie nickt mit großen Augen und lächelt noch immer dabei.
Fast hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Er hockt auf dem dicken Holzpflock neben meiner Haustür. Die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Kinn in beiden Händen schaut er mir entgegen, verfolgt grinsend, wie ich vor Schreck fast seine Ente ramme und den Wagen unsicherer als sonst in die Einfahrt rangiere. Dann, beim Näherkommen, wird mir endlich bewusst, wer er ist. Es trifft mich wie ein Schock!
Ich steige aus, winke ihm kurz zu und krame dann nach den Einkäufen im Kofferraum. Vergrabe mich eine Weile regelrecht darin und überlege krampfhaft, wie ich mit der Situation umgehen soll. Ihn einfach wegzuschicken bin ich zu feige, so brüsk kann ich mit ihm nicht umgehen. Das kann ich mit niemandem - eben weil ich zu so etwas eigentlich zu feige bin. Besonders, wenn ich mir meiner Ablehnung nicht ganz sicher bin, wenn ich den Menschen, um den es geht, im Grunde ganz nett finde. Aber was soll ich tun, wenn er mich zum Beispiel über den normalen Handschlag hinaus anfassen wird? Wenn er da weitermachen will, wo wir aufgehört haben und mir um den Hals fällt? ...
"Na, das ist ja ein Ding!" Zu höheren geistigen Ergüssen reicht es bei mir momentan nicht, dazu bin ich viel zu aufgeregt. Ich klemme mir eine der Tüten unter den Arm, schlinge den Riemen meiner Handtasche über die andere Schulter, greife nach dem Korb mit dem Gemüse, werfe die Kofferraumhaube wieder zu und gehe langsam zu ihm.
Er steht auf, wischt sich in einer flüchtigen, ebenfalls Verlegenheit signalisierenden Bewegung über den Jeans-Po, kommt die paar Schritte auf mich zu und nimmt mir den Einkaufskorb aus der Hand. Jetzt erst betrachte ich ihn genauer. Der kurze Haarschnitt lässt seine hübschen, schmalen Gesichtszüge sehr viel besser zur Geltung kommen, und der fehlende Schnäuzer gibt einen Mund mit festen, klar gezeichneten Lippen frei. Himmel, er sieht wirklich unverschämt gut aus! Und nun muss er sich nicht mehr ständig diese lästige Haarsträhne aus dem Gesicht streichen ...
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