—Was soll sein?, rief ich zurück.
—Einsteigen?
—Ich werde abgeholt.
Er fasste sich mit beiden Händen an die Wangen, unter den hochgekrempelten Ärmeln seines Hemdes spannten sich die Muskeln, —Oooh! Wieder ein V.I.P.-Knasti! Irgendwo den großen Schatz vergraben?
Was wollte der denn?
Er tippte auf die Zeitung, —Oder war der Millionenraub dein Plan, bist du der große Mastermind?
Er spielte auf dem gestrigen Rekordraub an, bei dem die größte Geldsumme in der Geschichte Europas gestohlen wurde. Die Nachricht hatte sich natürlich wie ein Lauffeuer im Kahn rumgesprochen. Über nichts anderes fantasierten die ganzen Bekloppten hinter ihren Türen. Ich fantasierte über meinen Abend mit Clarissa.
—Maul, raunte ich.
Er lachte gekünstelt, —Vergiss es, bis in einer Stunde!
Ich zeigte ihm den Finger.
Er winkte ab und schloss die Tür wieder.
Was wusste der schon? Gleich würde mein Vater um die Ecke fahren. Wahrscheinlich mit etwas Gesetzterem: einem Daimler oder Cadillac.
+
Das dachte ich zumindest.
Aber dem war nicht so.
Was ich nicht wusste: Er hatte sich bereits in Maria verguckt, der Kellnerin jener schmuddeligen Kneipe in der Nähe des Bahnhofs. Während ich in der Sonne brütete, turtelte er über einem kalten Frühstücksbier mit ihr.
Ganz groß.
Hätte ich ihn besser gekannt, ja, hätte ich ihn überhaupt gekannt, wäre ich netter zu dem Busfahrer gewesen.
Mein Vater war sehr früh, noch vor Sonnenaufgang, mit dem Zug angekommen. Er hatte tatsächlich vorgehabt, mich abzuholen, das musste ich ihm lassen. Doch anstatt in eine Selbstbedienungsbäckerei zu gehen, schlenderte Anton in dieses Bierloch. Beim zweiten Kölsch bekam er seine Zähne auseinander.
—Stört dich das nicht?, waren seine ersten Worte an Maria, mit der er alleine in der Kneipe war, den schnarchenden Alten in der Ecke mal nicht mitgerechnet.
—Was?, fragte sie genervt, und goss den letzten Rest Whisky aus einer Flasche Cutty Sark in ihr Glas. Dabei fiel ihre mediterrane Haarmähne nach vorn. Sie warf sie auf die andere Seite, indem sie ihren Kopf schief legte und in dieser Haltung verharrte, als würde sie einen Vampir zum Biss einladen.
Der makellose Hals einer von der Kneipenarbeit durchtrainierten Frau mit einem kleinen Bauchansatz, den andere nicht einmal wahrnehmen würden, erregte die Aufmerksamkeit meines Vaters.
Anton zeigte mit seinem Glas zur Eingangstür, —Na, das helle Licht da, der neue Tag, die damit verbundene Hoffnung.
Sie lachte kurz auf, —Mach dir hier um Hoffnung keine Sorge.
—Ach, wieso?
—Die traut sich hier nicht rein. Glaub mir, ich arbeite seit fast zehn Jahren ...
Genau in dem Moment wurde die Kneipentür brutal aufgestoßen. Hart schlug sie gegen die Wand, Putz rieselte herunter. Im Rahmen stand nicht die Hoffnung, sondern ein Typ in meinem Alter mit Militärhose, barfuß, mit nacktem Oberkörper, übersät mit zahlreichen Piercings. Er griff sich den erstbesten Stapel Bierdeckel von dem Tisch neben dem Eingang und feuerte sie, ein Maschinengewehrgeräusch imitierend, auf die drei Anwesenden.
Das war genau das, was Maria nach einer langen Nachtschicht brauchte.
—Raus hier, Junkie!, rief sie und warf die leere Flasche nach ihm.
Die Cutty Sark verfehlte ihr Ziel und traf den Türrahmen. Von dort polterte sie zu Boden, ohne zu zerbrechen. Der Wahnsinnige flüchtete aus dem Laden.
Die leere Flasche rollte an den Füßen von Anton und seinem Barhocker vorbei.
In Filmen zersplitterten die Flaschen immer. Wenn dem so gewesen wäre oder der Boden der Kneipe nicht so schief, der ganze Tag wäre anders verlaufen. Die Möglichkeiten, die einem das Leben bietet, schillern am hellsten in der Vergangenheit.
So meinte mein Mustervater, sich über die Jugend auslassen zu müssen, —Siehste! Das ist die Jugend, die Jugend, die Jugend.
—Was ist mit der Jugend?, fragte Maria.
—Verrückt.
—Das waren wir auch mal.
—So verrückt?
Sie zuckte mit den Schultern.
—Die Frage ist doch: Warum?, fragte er.
Und sie sagte, —Drogen. Das war ein Junkie.
—Das geht doch viel früher los. Warum nimmt er denn Drogen?
—Um high zu sein?
Er nippte an seinem Whisky, —Ach was, von wegen high sein. Was sollen die denn denken, wenn die sehen, was wir Erwachsenen machen? Guck dir doch die Nachrichten an, die Politiker, die Bänker, jeden mit einem Anzug, von wegen Politiker, denen sollte man die Berufsbezeichnung aberkennen! Durch etwas anderes ersetzen. Weißt du, dass Politik von Polis kommt? Das ist griechisch für „das Volk“!
—Herrje, ich hab einen Gelehrten an der Theke.
—Nur haben die nix mehr mit dem Volk zu tun. Von denen kommt keiner aus dem Volk, oder kennst du eine Ministerin, die vorher Krankenschwester war? Die kommen alle aus reichen Häusern, stinkreichen Häusern, da kann man auch nur so Politik machen, für Reiche, die kennen gar nichts anderes. Das kann man denen kaum zum Vorwurf machen. Aber dann soll man es auch nicht Politik nennen, sondern eher Firmenpolitik, oder so, ach, sagte er und winkte ab, als hätte Maria ihm geantwortet, und präsentierte stolz seine Wortschöpfung, —Firmenpolitiker, das sind sie, ja, und Firmenpolitik machen sie, das wäre ehrlich, und weil sie nicht so richtig für sich an die Steuergelder direkt rankommen, überweisen sie das Geld nach Griechenland. Geldwäsche ist das, Steuergeldwäsche, das sage ich dir, nichts anderes, vorne kommen Steuergelder rein, und hinten kommt Geld für die Taschen der Reichen raus, Banken, Versicherungen, da sitzen ihre Verwandten in den Vorständen und auf den Managerposten, perfekt. Unsereins wird entlassen, die Bänker werden staatlich unterstützt und kriegen weiter ihren Lohn. Schimpansen hätten nicht größeren Mist machen können als die all die Jahre. Den sollte man wenigsten den Lohn auf das deutsche Durchschnittsgehalt senken. Sollen sie damit mal klarkommen. Mal sehen, was sie dann sagen würden. Arrogant, wie die sind.
—Bist du fertig?, seufzte Maria mehr, als dass sie fragte.
—Die Gesichter würde ich gerne sehen. Das wäre was. Perfekt!, echote er für sich noch einmal. Aber weil er ihr ansah, dass sie seine Worte im Ordner mit der Aufschrift Kneipengefasel ablegte, und er spürte, dass er etwas weit ausgeholt hatte, wie immer bei dem Thema, fügte er noch etwas Allgemeingültiges hinzu, —Die Jugend hat einfach keine Vorbilder mehr.
—Außer uns, meinst du?
+
Meinte er wohl, oder so ähnlich. Was weiß ich, was er meinte, ich meinte auf jeden Fall irgendwann, es wäre besser, loszumarschieren und nicht länger auf ihn vor dem Gefängnistor zu warten. Außerdem wollte ich auch so schnell wie möglich weg von der Anstalt. Wie sieht das denn aus? Ewig vor dem Tor zu warten? Nachher denken die wirklich, ich will gar nicht raus, oder ich hätte nichts Besseres zu tun.
Und so latschte ich durch die brütende Hitze entlang der schnurgeraden Landstraße zwischen Feldern und Wiesen Richtung Stadt. Es roch nach Teer und toten Tieren, die wohl irgendwo verwesten.
Ich schwitzte wie ein Eisbär beim Sex im Zoo. Mein Seesack hatte das Gewicht eines kleinen Himmelskörpers angenommen, und weil er nur einen Riemen hatte, wechselte ich in immer kürzeren Abständen die Schulter. Schweiß tropfte aus meinen Haaren zu Boden. Ich hörte nur das Schlurfen meiner Sohlen und das helle Summen der Wespen und Bienen in den Büschen.
—Elendige Hitze, von wegen abholen. Wenn ich mich schon mal auf jemanden verlasse, selbst auf meinen Alten, meinen richtigen. Wie blöde kann man eigentlich sein?
Ich spuckte aus, mein Speichel weiß wie Kleister. Der Schweiß rann in meine Augen, das Salz brannte. Meine Sicht verschwamm, und der Asphalt flimmerte, trotzdem erkannte ich in der Ferne den Bus. Er war bereits auf seiner Rückfahrt.
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