Ich riss mich aus meinen Tagträumen und versuchte mich wieder auf diese verflixte Statistik zu konzentrieren.
Doch der Mann mit den herrlichen Schokoladen-Augen spukte mir auch immer wieder im Kopf herum. Da ich allein in meinem Büro saß, merkte niemand, dass ich nicht ganz bei der Sache war.
Als ich dann am späten Nachmittag meinen Arbeitsplatz verließ, hoffte ich, die Statistik war fehlerfrei. Es war mir richtig peinlich, an diesem Tag nicht ganz bei der Sache gewesen zu sein. Das kannte man von mir nicht.
Plötzlich stand der Mann vor mir.
Verwirrt lächelte ich ihn an: „Haben Sie auf mich gewartet?“
Er nickte.
„Den ganzen Tag?“
Er nickte wieder.
„Normalerweise mache ich das nicht, aber Sie machen mich neugierig. Darf ich Sie zum Essen einladen?“
Er wiegte sich hin und her.
„Keine Angst, dass geht in Ordnung.“
Dann nickte er wieder, hakte sich bei mir ein und lächelte zum ersten Mal.
Wir gingen in ein kleines Lokal in der Nähe. Dort fielen wir nicht weiter auf und konnten uns kennen lernen, dachte ich.
„Möchten Sie etwas Warmes essen? Sie haben sicher lange nichts gegessen, stimmt’s?“
Wieder bekam ich als Antwort nur ein Nicken.
„Es ist ehrlich gesagt etwas schwierig, mich mit Ihnen zu unterhalten, wenn Sie nichts sagen. Können Sie sprechen?“
Diesmal nahm er eine Serviette, zückte einen Kugelschreiber – ja, er hatte tatsächlich einen eigenen Kugelschreiber - aus seinem Mantel und schrieb. „Ich kann sprechen, darf aber nicht.“ Darunter setzte er: „Vielen Dank. Sie sind sehr nett.“
Ich lächelte. „Das Problem ist, ich weiß nicht, was Sie von mir wollen, wer Sie sind, und warum Sie hinter mir herlaufen und sogar auf mich warten.“
Wieder schrieb er: „Das ERZÄHLE ich, sobald ich darf. Einstweilen, vertrauen Sie mir bitte. Können Sie mir einen Schlafplatz besorgen?“
Verdattert schaute ich ihn an. Er hatte das Wort ‚Erzählen’ tatsächlich in Großbuchstaben geschrieben. - Vertrauen. - Das hatte ich nur noch den Tieren und Pflanzen gegenüber. Menschen hatten mich zu sehr und zu oft enttäuscht. Und wo er schlafen sollte, wusste ich auch nicht so recht.
Kurzerhand entschuldigte ich mich und ging Richtung Toilette. Allerdings nahm ich die Hintertür und lief direkt zu einer großen alten Eiche.
„Puh. Ihr wisst was heute abgegangen ist. Liebe Eiche, was habe ich davon zu halten? Was soll ich tun? Ist dieser Mann OK? Wer ist dieser Mann? Was will er von mir?“
Ein kräftiges Rauschen in den Blättern setzte ein, die Zweige wiegten sich hin und her. Jeder Mensch, der diese Sprache nicht verstand, hätte gedacht, es weht halt ein leichter Wind.
Aber ich verstand, was die Eiche mir sagte: „Ich werde mit den anderen Bäumen sprechen. Wenn Ihr das Lokal verlasst, gibt Dir einer von uns Bescheid.“
Etwas erleichtert ging ich wieder ins Lokal, an meinen Platz. Als ich auf den Tisch zuging, musterte ich den jungen Mann. Gut sah er schon aus, etwas verwittert, als hätte er einige Zeit auf der Straße gelebt. Aber er wirkte keinesfalls verkommen. Außerdem hätten die Bäume ihn gekannt. Seine Jeans wirkten zerschlissen, aber nicht ungepflegt. Sein Pullover erinnerte mich an Schafe auf der Weide. Seine Kleidung war alt aber nicht so wie die eines typischen Bettlers.
Ich setzte mich wieder zu ihm und bestellte für uns eine vegetarische Pizza und eine Pizza Speziale.
„Möchten Sie Coke oder Bier oder Wasser?“
Er hob drei Finger.
Ich nahm an, er wollte Wasser. „Also, dazu noch ein Wasser und eine Apfelsaftschorle bitte.“
Die Bedienung ging.
„Wenn ich Ihnen helfen kann, wohlgemerkt, wenn! Wie heißen Sie überhaupt?“
Er sah mich traurig an. Seine Finger zeigten mir einen versiegelten Mund.
„Wenn Sie mir das nicht sagen dürfen, dann sagen Sie mir wenigstens, wie ich Sie nennen soll. Es muss ja nicht Ihr Name sein.“
Als Antwort erhielt ich einen fragenden Blick, der mich an ein heimatloses Tier erinnerte, was adoptiert werden wollte.
Ich musste Lächeln. „Ok, dann nenne ich Sie….hm, was passt zu Ihnen, …. Ah, ich weiß, ich nenne Sie Jo. Ist das OK für Sie?“
Er lächelte und nickte. Wenn ich gewusst hätte, wie nah ich an seinem Namen dran war, dann hätte ich vermutlich laut losgelacht.
Dieser Monolog ging mir langsam etwas auf die Nerven, so war ich froh, dass unser Essen kam. Jo genoss seine Pizza sichtlich. Jeden Bissen sah er sich genau an und ließ ihn langsam im Mund verschwinden.
Jemand, der einfach nur Hunger hatte, aß, meiner Meinung nach anders. Aber auch das ist ein Klischee.
Nach dem Essen zahlte ich, und wir verließen das Restaurant. Draußen blieb ich stehen. Und blickte auf die Bäume.
Augenblicklich fingen sie an zu rauschen und sich zu bewegen.
„Vertrau ihm, nimm ihn bei Dir auf. Er braucht Deine Hilfe und er ist in Ordnung.“
Ich sagte laut: „Gut, danke.“
Und als ob Jo wusste, bei wem ich mich bedankte, verbeugte er sich vor dem nächsten Baum.
Erstaunt bemerkte ich diese Geste, wagte jedoch nicht, ihn in diesem Moment darauf anzusprechen.
Er hakte sich bei mir ein. Gemeinsam schlenderten wir zu mir nach Hause. Kurz bevor ich aufschloss, begegneten sich noch einmal unsere Blicke.
„Ja, Du darfst bei mir bleiben. Mal sehn auf wen oder was ich mich hier einlasse.“
Er strahlte und gab mir einen Kuss auf die Wange.
Lachend erwiderte ich: „Noch mal machst Du das erst, wenn Du rasiert bist, klar?“
Jo salutierte grinsend.
Meine Wohnung war nicht groß, aber ich war stolz, was ich aus ihr gemacht hatte. In meinem Flur hatte ich eine kleine Garderobe aus Naturholz. Rundherum hingen Bilder der Natur.
Als Jo seinen Mantel ausgezogen hatte, bewunderte er jedes eingehend. Es wirkte etwas, als erkenne er jedes Winkelchen auf den Bildern wieder. Seine Augen strahlten. Während Jo meine Wohnung betrachtete, schaute ich ihn mir gründlich an. Nein, er wirkte wirklich nicht wie ein Stadtstreicher. Sein Körper wirkte trotz der zerschlissenen Kleider durchtrainiert und athletisch. Seine Hände waren gepflegt. Er konnte einfach kein gewöhnlicher Stadtstreicher sein.
Ich organisierte ein Paar Hausschuhe für ihn. Nach einem weiteren Blick auf ihn, gestand ich mir schweren Herzens ein, dass er ausgesprochen gut aussah. Wenn so ein Mann meine Hilfe brauchte, dann musste er einfach etwas sehr schlimmes erlebt haben, um so zu leben, wie er jetzt lebte. Anders konnte ich mir das nicht erklären. Solche Männer verabredeten sich in der Regel nicht mit mir. Ich wurde von solchen Männern eher übersehen. Allein, dass er mich für seine Hilfe auserkoren hatte, machte ihn zu etwas Besonderem und interessant.
Ich hatte Parkett legen lassen. Dadurch fühlte ich mich irgendwie naturverbundener. Eigentlich träumte ich von einem kleinen Blockhaus mit einem kleinen verwinkelten Garten. Mehr würde ich mir eh nie leisten können. Dachte ich damals.
„So, Jo, ich zeig’ Dir erst mal, wo was ist, und wo Du schlafen kannst. – Auf zur Schlossführung.“
Jo blickte neugierig in alle Räume. Mein Wohnzimmer war im Landhausstil eingerichtet, die Möbel hatte ich mir mühsam zusammengespart. Hier hatte ich mich zur Ergänzung für einen Drachenbaum und einen Benjamini entschieden. Beide Zimmerpflanzen mochte ich besonders gern. Mein Schlafzimmer war eher modern und praktisch gehalten. Hier hatte ich mich für ein Bett aus Metall entschieden. Dies wurde ergänzt durch einen silberfarbenen Kleiderschrank und einige Bilder moderner Künstler an der Wand. Ein Künstler hatte mir eine Metalllampe in Form eines Baumes verkauft. Mir gefiel der Kontrast zu all den anderen Räumen.
Ich erhielt immer wieder ein Lächeln oder ein Nicken als Reaktion.
„Hier ist das Bad, da kannst Du gleich Duschen oder Baden, wenn Du magst.“
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