Als sie heimkam lagen die Kinder schon im Bett und das von Jakob zubereitete Abendessen stand auf dem Herd. Eine kurze Gutenachtgeschichte für die Kleinen, dann setzte sie sich mit Jakob an den Tisch und erzählte ihm während ein paar lustlos gekauter Happen, von ihrem traurigen Tag. Nach dem Essen und einem Glas Wein nahm Isabel an, dass Severin jetzt nicht mehr im OP Saal, sondern schon auf der Intensivstation lag. Jakob bot an, sie ins Krankenhaus zu begleiten, aber Isabel meinte es wäre ihr lieber, wenn er bei den Kindern blieb. Sie machte sich zu Fuß auf den Weg.
Severin lag in künstlichem Tiefschlaf und von einer Maschine beatmet auf der Intensivstation. Dicke, dort und da schon durchgeblutete Verbände bedeckten sein Gesicht und ein Beatmungstubus ragte aus einem Luftröhrenschnitt tief unten im Hals. Was Isabel als professionelle Ärztin kaum berührte, setzte ihr als liebende Schwester doch sehr zu und erfolglos versuchte sie die Vorstellung zu verdrängen wie Severin unter dem Verband wohl aussah. Sein feines, ebenmäßiges Gesicht mit diesen verträumten Augen, das viele Mädchenherzen höherschlagen ließ, obwohl Severin die Zuneigung hübscher Knaben immer schon viel lieber als die der Mädchen war.
So tragisch seine Situation und die Aussichten jetzt auch schienen, tröstete Isabel sich damit, dass er sich momentan nicht in unmittelbarer Lebensgefahr befand. Sie saß an seinem Bett, bis sie um Mitternacht die große Müdigkeit überkam und sie sich auf den Heimweg machte. Die Straßen waren schlecht beleuchtet und außer einer Gruppe angeheiterter Nachtschwärmer und zwei alten Damen, die ihre Hunde noch Gassi führten, menschenleer.
Isabel hing im Gehen ihren Gedanken nach. Und sosehr ihr das Schicksal ihres kleinen Bruders auch zusetzte, je weiter sie das Krankenhaus hinter sich ließ, desto mehr beschäftigen sie wieder, wie schlecht es um ihre geschäftliche Lage stand. Sie befürchtete, dass es in Wirklichkeit schlimmer um aussah, als Jakob angedeutet hatte, gewiss hatte er nur vermeiden wollen, dass sie sich Sorgen machte. Sie war neugierig geworden und es war noch nicht allzu spät. Der Schlüssel zum Geschäft hing an ihrem Schlüsselbund und die Aussicht auf Gewissheit war ihr diesen kleinen Umweg wert. Beim Geschäft angekommen ging sie am Haupteingang vorbei, weiter in den stockfinsteren Innenhof, fummelte den Schlüssel ins Schlüsselloch und entspannte sich erst, als sie im Büro in Sicherheit war.
Sie war schon länger nicht mehr hier gewesen und überhaupt noch nie, ohne dass Jakob auch hier war. Zuerst einmal verschaffte sie sich im schwachen Licht der Schreibtischlampe einen Überblick. Alles sah so wie immer aus. Sie nahm Jakobs Platz hinter seinem Schreibtisch ein und fühlte sich wie in ihn hineinversetzt. Sie entspannte sich, dachte an nichts Bestimmtes und nahm für eine Weile die Welt mit seinen Augen wahr.
Das Kassabuch hatte er immer in der abgesperrten mittleren Schublade seines Schreibtisches aufbewahrt und den dazu passenden Schlüssel gewöhnlich in einem geschnitzten Holzkästchen, das neben der Leselampe stand. Isabel fand alles wie gewohnt vor. Jakob änderte seine Gewohnheiten kaum. Sie nahm das Buch heraus und blätterte es gespannt Seite für Seite, Monat für Monat durch. Wie befürchtet, war die Lage ernster als von Jakob dargestellt. Wenn sich nicht bald etwas änderte, war ein unschönes Ende abzusehen. Niedergeschlagen klappte Isabel das Buch wieder zu und wollte es zurück in die Lade legen, da fiel ihr darin ein Zettel mit dem Namen ihres Bruders auf. Sie nahm ihn heraus und las ihn im schwachen Licht der Lampe durch . Es war ein Einzahlungsschein und die Höhe des Betrags ließ Isabel fast das Atmen vergessen. Eingezahlt vom Ministerium an Herrn Rüdiger Kranach-Walde, unter Zahlungszweck stand „Förderung - Denkmalschutz“. Isabel drehte sich um, sie hatte plötzlich das Gefühl beobachtet zu werden. Sie hinterließ alles so, wie es gewesen war, dann eilte sie auf schnellstem Wege nach Hause zurück.
Sie sah nach den Kindern, die friedlich und glückselig in ihren Betten schlummerten, dann erst ging sie ins Schlafzimmer und begann, ohne das Licht einzuschalten, sich auszuziehen. Sie bemühte erst gar nicht besonders leise zu sein und Jakob dreht sich verschlafen um. Er tappte nach dem Wecker auf dem Nachttisch, erwischte dabei aber nur seine Brille, die dabei zu Boden fiel.
„Isabel machst du bitte Licht? Wie spät ist es eigentlich?
„Halb Zwei vorbei!“
Isabel hatte sich ausgezogen und ging ins Bad. Jakobs Schläfrigkeit war verflogen. Er setzte sich im Bett auf und sah ihr nach. Ihr Tonfall verriet, dass etwas nicht in Ordnung war. Es erschien ihm unverfänglicher sich zuerst nach Severin zu erkundigen.
„Er ist stabil. Mehr kann man momentan nicht sagen“ antwortete sie und putzte ihre Zähne fertig.
„Übrigens, ich war jetzt noch bei dir im Büro.“
„Ja? Wieso…? Und?“
„Was hat es mit dieser Zahlung an Rüdiger auf sich?“
„Ach die!“
„Nicht ´Ach die!´ Jakob! Nicht bei dieser Summe! Wofür bekommt er das?“
Jakob stand auf und schlüpfte in eine Jacke, mit dem Schlafen war es vorerst vorbei. Isabel würde nicht mehr lockerlassen und vielleicht war es auch wirklich an der Zeit sie einzuweihen.
„Ich hole mir ein Glas Roten. Für dich auch?“ fragte er im Hinausgehen.
Isabel antwortete nicht, trotzdem kam er mit zwei Gläsern zurück. Sie saß mit dem Rücken gegen die Wand im Bett, beide Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Jakob hielt ihr ein Glas hin, sie nahm es ihm ab, trank aber nicht.
„Wir haben einen V-Mann im Ministerium, der hat mir diesen Beleg zugespielt.“
„Wir? V-Mann? Was alles weiß ich denn da nicht?“
Jakob nutzte einen langen Schluck zum Nachdenken, um den richtigen Anfang zu finden, dann begann er zu erzählen, nicht Alles und nicht vorbehaltlos, nur soweit es ihm unvermeidlich und unbedingt notwendig erschien. Er schilderte, wie Rüdiger unter dem Deckmantel des ehrbaren Saubermanns die Schmutzarbeit für seine Partei erledigte und dafür die ´Förderungen´, die sie gesehen hatte, erhielt.
„Und wer ist ´wir´?“, wollte Isabel weiterwissen.
„Verwandtschaft, Freunde, Gleichgesinnte, einige die eine gesunde Abneigung gegen Naziumtriebe eint.“
Mehr wollte Jakob nicht verraten und Isabel beließ es dabei. Sie unterhielten sich danach noch über Severin, über das Geschäft, Patrizia und über die Kinder, bis Jakob nicht mehr antwortete, weil er eingeschlafen war. Isabel aber lag noch lange wach, sie quälten ungestellte Fragen und vor allem der Gedanke, ob sie vielleicht nur eine nützliche Figur in Jakobs heimlichen Aktivitäten war.
Als sie in der Früh aufwachte war das Bett neben ihr leer und Jakob schon im Büro. Nach dem Aufstehen entschied Isabel ganz regulär zur Arbeit zu gehen. So konnte sie immer in Severins Nähe sein und war zugleich durch die Routine doch etwas abgelenkt. Ihr erster Weg führte sie zu ihm auf die Intensivstation. Sein Zustand war im Wesentlichen unverändert, keine unmittelbare Lebensgefahr, aber noch lange nicht über dem Berg. Als Isabel am späteren Vormittag wieder nach ihm schauen ging, stand ein großer, ihr unbekannter Mann an seinem Bett. Er kam ihr entgegen, als er sie kommen sah, begrüßte sie mit ihrem Namen und stellte sich als derjenige vor, der beim Überfall auf Severin dazugekommen war.
„Herr Tanner, der ehemalige Kommissar, der Severin gerettet hat?“ fragte Isabel nach.
„Ja, nur war ich leider ein bisschen zu spät.“
„Trotzdem vielen Dank Herr Tanner und vor Allem gute Besserung! Es tut mir leid, aber ich muss mich schon beeilen, ich habe noch zu tun.“
Auch Tanner sagte, er hätte noch zu tun und auch er verriet nicht was. Er hatte darauf bestanden, heute schon entlassen zu werden und war nur noch als Besucher hier. Die weitere Behandlung seiner Wunde konnte genauso gut auch ambulant durchgeführt werden. Wegen der Schlinge um seinen verletzten Arm, brachte Tanner den Mantel nicht ganz zu. Er befand kurzerhand, dass sie nicht mehr nötig war und entsorgte sie in einem Abfallkorb im Foyer.
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