Erst als die Tür des Operationstrakts sich hinter Severin geschlossen hatte, dachte Isabel daran, ihre Geschwister zu verständigen. Von Patrizia versprach sie sich in dieser Situation wenig Unterstützung, eher eine zusätzliche Belastung noch. Sie wollte lieber Rüdiger anrufen und wählte seine Nummer. Er meldete sich nicht.
Rüdiger hatte es läuten gehört, aber absichtlich nicht abgehoben. Er hatte jetzt Wichtigeres zu erledigen und dafür nur sehr wenig Zeit. Er hatte Emilia und Viktor, den beiden treuen Dienstboten des Hauses heute freigegeben und ihnen sogar einen Restaurantbesuch spendiert. Noch vom Fenster seines Lesezimmers hatte er ihnen nachgeschaut, bis sie in den Bus gestiegen und losgefahren waren. Er wollte ganz sicher gehen, dass er die nächsten paar Stunden ungestört war. Jetzt befand er sich in den Räumlichkeiten seines Vaters im ersten Stock. Das Büro war abgesperrt, er wusste aber wo der Schlüssel lag. Lade um Lade, Regal um Regal durchwühlte er Ordner und Stöße von Papier auf fieberhafter Suche nach diesem verfluchten Testament. Obwohl er wusste, dass niemand im Haus war, der ihn hätte stören können, hatte er ständig das Gefühl nicht allein zu sein. Besonders im Schlafzimmer des alten Barons kam er sich beobachtet vor. Er beeilte sich. Das Nachkästchen, die Kleiderschränke und Kommoden waren halbleer und schnell durchsucht.
Sogar unter der Matratze sah er nach. Als er mit seiner Suche bis in den Rauchsalon vorgedrungen war, hörte er wie ein Wagen die Auffahrt durch den Garten heraufgefahren kam. Ein ungeduldiges Hupen, dann ein Klingeln und Pochen an der Tür. Rüdiger sah aus dem Fenster, fluchte und rannte hinunter. Kaum hatte er aufgesperrt, platzte Patrizia herein.
„Warum zum Teufel gehst du denn nicht ans Telefon? Isabel hat dich nicht erreicht.“
Sie war in ihrem Hausanzug und unfrisiert, den Motor ihres Autos hatte sie nicht abgestellt.
„Severin ist überfallen und dabei halb totgeprügelt worden. Isabel hat mich vorhin angerufen, er wird gerade operiert. Komm mit, beeile dich!“
Rüdiger setzte sich hinter das Lenkrad, Patrizia nahm unter Protest am Beifahrersitz Platz. Sie war außer sich und roch nach Likör. Viel mehr, als dass Severin zusammengeschlagen worden war, konnte Rüdiger während der Fahrt nicht von ihr erfahren.
Im Gang vor dem Operationsbereich saß Isabel, eine Kollegin hielt ihr tröstend die Hand. Sie verabschiedete sich, als sie Isabels Geschwister kommen sah und Patrizia übernahm ihren Platz und Isabels Hand. Rüdiger gab ihnen nur einen Augenblick, dann drängte er.
„Jetzt sag doch schon, hat es ihn schlimm erwischt?“
„Er hat einen Schädelbruch“ begann Isabel aufzuzählen, „etliche Prellungen und Blutergüsse im Gehirn und der Oberkiefer ist zertrümmert. Es ist kritisch und auch wenn er es überstehen sollte, kann man nicht sagen wie. Wenigstens hat es auch einen dieser Verbrecher erwischt!“
Patrizia begann haltlos zu schluchzen, Rüdiger stand einfach nur da und ignorierte das Läuten seines Telefons, bis Isabel ihn bat, es entweder auszuschalten oder anzunehmen. Rüdiger hob ab. Einer seiner Parteifreunde war am Apparat.
„Hast du schon von diesem Raubüberfall gehört? Finn ist gerade noch abgehauen und Nummer Zwei hat eine Kugel in den Hals abgekriegt.“
Rüdiger drehte sich weg und hielt eine Hand vor das Telefon, obwohl seine Schwestern ohnehin mit sich selbst beschäftigt waren.
„Ich dachte nur, ich warne dich rechtzeitig vor, damit du dir schon einmal überlegen kannst, wieso du diese beiden eigentlich gar nicht kennst und sie auch überhaupt noch nie gesehen hast. Der Vorstand meint, du solltest auch noch...“
Rüdiger hatte genug gehört und legte auf.
„Wer war das?“, wollte Isabel wissen.
Rüdiger schaltete das Telefon aus und schüttelte nur den Kopf.
„Wie lange sollen wir denn hier noch warten? Kannst du nicht fragen wie es ihm geht?“
„Meine Kollegen tun was sie können, jetzt zu fragen stört sie nur.“
Ungeduldig ging Rüdiger den Gang auf und ab, bis Isabel ihn bat sich endlich zu setzten. Er seufzte, nahm Platz und wippte ständig mit dem Fuß. Isabel sah im eine Weile zu, dann meinte sie, es wäre besser, wenn er nach Hause fuhr. Sie würde mit Patrizia hier die Stellung halten und ihm Bescheid geben, wenn es Neuigkeiten gab. Rüdiger hatte nichts dagegen.
Im Taxi löschte er Finns Nummer aus seinem Telefon und überlegte was außerdem noch an verräterischen Spuren zu beseitigen war. Als er Zuhause ankam, waren Emilia und Viktor schon vom Essen zurück und die weitere Suche nach dem Testament damit vorerst nicht mehr möglich. Rüdiger berichtete ihnen kurz, was Severin zugestoßen war, nahm sich aber keine Zeit für Emilias besorgte Fragen, er hatte jetzt dringendere Dinge im Kopf. Zum Nachdenken zog er sich in die Bibliothek zurück. Als es zaghaft an der Tür klopfte, reagierte er zuerst nicht darauf, auch nicht, als es beim zweiten Mal schon etwas bestimmter klang. Trotzdem ging die Tür einen Spalt auf und Emilia steckte ihren Kopf herein.
„Bitte vielmals um Entschuldigung Herr Baron, Besuch ist da. Der Herr lässt sich nicht abweisen, er sagt es geht um Leben und Tod!“
Sie ging einen Schritt zur Seite und Rüdiger sah eine breite Silhouette mit Kapuzenjacke hinter ihr stehen. Ohne ein Wort, schob Finn sie unwirsch beiseite und kam herein.
„Ihr verdammten Idioten!“ fuhr Rüdiger Finn an, noch bevor Emilia die Tür wieder ganz zugemacht hatte.
„Ihr habt den Falschen erwischt. Ihr habt meinen Bruder fast umgebracht!“
Finn ließ sich in ein Sofa fallen und griff nach einer Flasche vom Beistelltisch.
„Er lebt aber noch, soviel ich weiß. Nummer Zwei hat leider nicht so viel Glück gehabt, dieser Tanner hat ihm eine Kugel verpasst. Das mit deinem Bruder war ein Missgeschick. Wir dachten, dass es Noras Freund, dieser Erik ist. Er ist einfach unglücklich gefallen. Egal, es ist wie es ist! Wir müssen jetzt schauen wie wir diese Angelegenheit unbeschadet überstehen.“
„Wir?“ fragte Rüdiger spöttisch nach.
„Ja, wir! Du hängst da genauso mit drin wie ich Herr Baron. Ich brauche Bares, um unterzutauchen. Und zwar sofort und nicht zu knapp.“
Rüdiger zog seine Brieftasche heraus und gab Finn alle Scheine, auch die kleinen. Finn hielt ihm, ungeduldig fordernd, die Hand hin. Zögernd und sehr ungern trennte sich Rüdiger sich auch noch von seiner Uhr und einigen Goldmünzen aus dem Tresor.
Dann ließ er Finn bei der Terrassentür in den Garten hinaus. Im Zimmer über ihnen standen Viktor und neben ihm Emilia am Fenster und sahen ihm nach, bis er zwischen den Sträuchern verschwunden war.
„Kommst du mit?“ fragte Emilia und drehte sich zum Gehen um. Viktor blieb am Fenster stehen.
„Nein, geh besser allein zu ihm, ich warte hier.“
Emilia warf einen Mantel über und hastet zum nächsten Taxistand. Nichts hätte sie jetzt zurückhalten können, Severin war wie ein Sohn für sie. Im Aufenthaltsraum vor dem Operationstrakt traf sie Isabel, die ihr völlig aufgelöst schilderte, wie es um Severin stand. Die Neurochirurgen hatten ihren Teil an Severins Versorgung schon geleistet, jetzt waren die Kieferchirurgen am Zug. Sie gaben sich Mühe, Severins zertrümmertes Gesicht zu rekonstruieren und würden damit noch stundenlang beschäftigt sein. Das Klingeln ihres Telefons unterbrach Isabel. Rüdiger wollte, ganz besorgter Bruder, von ihr wissen, was es Neues gab. Kühl und knapp informierte Isabel ihn. Er sollte ruhig merken was sie von seinem wenig einfühlsamen Verhalten vor ein paar Stunden hielt. Sie erwähnte auch, dass Emilia bei ihr war, was Rüdiger gar nicht zu gefallen schien.
Im Operationsaal hatte die Nachtschicht den Tagdienst abgelöst und im Hinausgehen meinte die OP-Schwester zu Isabel, dass noch nicht einmal die Hälfte des Eingriffs vorüber war. Zuhause warteten die Kinder und Jakob und hier konnte Isabel nichts weiter tun, als einfach nur in Severins Nähe zu sein. Sie wollte später wiederkommen, wenn Severin dann hoffentlich schon auf der Intensivstation war.
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