Die wichtigste Frage war natürlich, ob er von Stackelmann und seinen Genossen trauen konnte. Je länger die Fahrt dauerte, ohne dass ihn jemand folterte oder verstümmelte, desto sicherer fühlte er sich. Natürlich war es immer noch möglich, dass die drei irgendwelche Perverslinge waren, die ihn nun an einen Ort brachten, wo ihn niemand schreien hören würde, wenn sie ihn in seine Einzelteile zerlegten. Aber seit wann druckten Perverse Hochglanzprojekte? Es war einfach so schön an die Existenz der Superschurkenschule von Darnwolt zu glauben, dass Siegfried es vorzog sich nicht weiter Sorgen zu machen.
Sorgen sollte sich seine Mutter machen. Geschah ihr Recht. In den vergangenen zehn Jahren hatte sie immer verängstigt und gehetzt gewirkt. Siegfried hatte immer das Gefühl gehabt, da wäre nicht nur die Trauer um Arnie van Bowdendonk, die hatte er ja genauso empfunden wie sie. Aber ihre übertriebene Ängstlichkeit war ihm zunehmend auf die Nerven gegangen. Wann immer er sich auf dem Schulweg verspätet hatte, fand er seine Mutter am Küchentisch vor, wenn er nach Hause kam. In den Wintermonaten schaltete sie beim Warten nicht einmal das Licht an. Sie saß einfach nur da und starrte ausdruckslos in das Display ihres iphones, das ihr Gesicht in kaltes weißes Licht tauchte. Wenn er den Lichtschalter betätigte, schaltete sie das Telefon aus, steckte es ein und umarmte ihn, als wäre er ein Jahr weggewesen. Dann machte sie Abendessen, ohne ein Wort zu sagen. Außer ihrer Paranoia nervte sie Siegfried noch damit, dass sie seit Vaters Tod versuchte Mama und Papa gleichzeitig zu sein. Sie hatte ihm beim Eins gegen Eins Basketball schlecht aussehen lassen, beim Schach hatte sie ihn mit zehnzügigen Kombinationen vom Brett gefegt und auch den Selbstverteidigungskurs hatte Siegfried geschmissen, nachdem seine Mutter ihn mit ihrer unschlagbaren Überwältigungstechnik bezwungen hatte. Vor dem zehnten Lebensjahr braucht ein Junge einen Vater, den er bewundert, und eine Mutter, die ihn gewinnen lässt, damit er den Spaß nicht verliert. So werden Sieger gemacht, nicht mit wiederholten Unzulänglichkeitserfahrungen, fand Siegfried. Als er neun war, hatte er seinen letzten Airball geworfen, hatte zum letzten Mal von seiner Mutter im Sparring eins auf die Nase bekommen. Stattdessen hatte er sich mit Feuereifer auf die Wissenschaft gestürzt. Er verbrachte jeden Nachmittag, auch die heißen Sommertage, im Dach über der Garage, wo er ein Labor unterhielt. Zwei Jahre später konnte er den Benzinmotor des Ford durch einen Fusionsantrieb ersetzen, im Jahr darauf hatte er seine erste Superwaffe gebaut, den Desoxyribonukleinsäurevaporisator.
Das Gerät verdampfte die Erbsubstanz lebender Organismen, sodass sich Lebewesen in wenigen Sekunden in etwas verwandelten, was aussah wie rötlich gefärbter Tapetenkleister. Siegfrieds Prototyp war nur so groß wie eine elektrische Zahnbürste und seine Energie reichte gerade aus, um das Erbmaterial eines großen Säugetiers zu verdampfen. Aber es sprach nichts dagegen einen größeren Vaporisator zu bauen, der vom Weltraum aus die DNA einer Kleinstadt vaporisieren könnte. Momentan wurde Siegfrieds Vaporisator als Zahnbürste missbraucht. Siegfried hatte eine Drosselspule eingebaut. Auf diese Weise war der Desoxyribonukleinsäurevaporisator für Menschen ungefährlich. Man konnte ihn aber zur Körperhygiene verwenden. Seine Strahlung tötete Kariesbakterien, die in der Mundhöhle ihr Unwesen trieben. Auch die Hautkeime, die für den strengen Geruch in Siegfrieds Achselhöhlen sorgten, ließen sich damit vernichten. Eigentlich hätte Siegfried stolz auf sich sein können. Jede große Erfindung der Menschheit, vom Rad bis zur Kernspaltung, war bis jetzt missbraucht worden, indem man sie in der Waffentechnik einsetzte. Er hatte mit Hilfe der Drosselspule sozusagen eine Pflugschar aus einem Schwert gemacht. Das hätte auch aus philosophischer Sicht eine große Errungenschaft bedeutet, wenn er nicht ein Superschurke hätte werden wollen. So aber sah es Siegfried mit gemischten Gefühlen, dass sein Desoxyribonukleinsäurevaporisator sein Dasein in seinem Hygienebeutel fristete. Auf jeden Fall hatte er dank dem Gerät drei Jahre Zahnspange kariesfrei überlebt, und er hatte nie gestunken wie ein Iltis, obwohl er nur einmal pro Woche duschte.
Draußen war jetzt später Nachmittag, wie Siegfried mit einem Blick durch die getönten Scheiben erkannte. Als Doktor von Stackelmann bemerkte, dass Siegfried aufgewacht war, tippte er mit dem Zeigefinger auf einen Knopf in seiner Armlehne. Langsam und geräuschlos öffnete sich der Deckel eines Kühlschranks. Dort lag auf einem Bett aus Eis ein liebevoll belegtes Schinken-Käse-Sandwich und eine Dose Coca Cola. „Wie wäre es mit einem Imbiss? Ich hoffe das Sandwich ist in Ordnung.“ Er sprach leise, denn das Mädchen Lisa schlief noch in eine rostrote Kaschmirdecke gehüllt.
Siegfried griff zu. Während er auf beiden Backen kaute, zog er den Deckel von der Cola. Das Sandwich war knusprig und der Belag schwebte auf zart schmelzender Mayonnaise. Siegfried genoss die tadellose Konsistenz seines Sandwichs und freute sich an der Kühle seiner Cola, während er aus dem Fenster auf die grandiose Berglandschaft sah.
Von Stackelmann goss sich ein großes Glas kalter Milch ein und nippte von Zeit zu Zeit daran, während auch er den Blick aus dem Fenster genoss. Eine dunkle Gewitterwolke etwa zwanzig Meilen voraus weckte Siegfrieds Aufmerksamkeit. Obwohl es ein strahlender Spätsommertag war, hüllte diese Wolke einen Berggipfel ein. Blitze zuckten daraus hervor und wie Kuchenteig wurden die Wolken vom Wind im Kreis gerührt. Doktor von Stackelmann sah, worauf Siegfried blickte. „Darnwolt“, sagte er. „Wir haben einen Gewittergenerator, der die Schule vor neugierigen Blicken abschirmen hilft.“ „Ein Gewittergenerator? Wie funktioniert der?“ wollte Siegfried wissen.
Von Stackelmann erklärte, dass es sich eigentlich um eine Art Silvesterrakete handelte, die mit galvanisiertem Calciumchlorid beladen ist. „Der eigentliche Clou ist die Galvanisierung des Calciumchlorids“, erklärte er. Dadurch bekommst du nicht nur Platzregen, sondern du initiierst eine elektrische Aufladung der Wolke, sodass es zu Donner und Blitz kommt. Erspare mir die Einzelheiten.“ Siegfried hatte eigentlich keine Lust, über die Einzelheiten hinwegzugehen, aber in diesem Moment wachte Lisa Tekiero auf. Während sie sich räkelte und streckte, rollte sich Siegfrieds Unterlippe auswärts Richtung Kinn. „Guten Morgen“, sagte das Mädchen gut gelaunt. Dass ein großer Tropfen Spucke von Siegfrieds ausgerollter Unterlippe tropfte, übersah sie geflissentlich.
Nachdem Lisa ein zweites Mal freundlich guten Morgen gewünscht hatte, war seine Mundhöhle endlich feucht genug, um zu antworten.
Das Mädchen versuchte für mehrere Minuten eine Unterhaltung in Gang zu bringen, aber Siegfried war so mit Anglotzen beschäftigt, dass Lisa es irgendwann aufgab und sich lieber mit Doktor von Stackelmann unterhielt. Gemeinsam bewunderten sie den Anblick der Gewitterwolke, die Darnwolt einhüllte. „Als Wissenschaftler sollte man zwar nicht überrascht sein, wenn eine Erfindung so tadellos funktioniert, aber ich muss sagen, wenn ich das Gewitter über Darnwolt aus der Ferne sehe, finde ich das recht gelungen“, meinte von Stackelmann selbstzufrieden. Eine Viertel Stunde später war der Bugatti am Fuß des Darnwoltberges angekommen.
Das Motorgeräusch verwandelte sich in ein tiefes Schnurren, während Jenkins den Wagen um die zahllosen Haarnadelkurven steuerte.
Siegfried wurde flau im Magen. Seine Handflächen fühlten sich schweißnass und kalt an. Offensichtlich war auch seine Gesichtsfarbe ins Grünliche umgeschlagen, denn mit einem Mal tippte Lisa Jenkins auf die Schulter. „Bitte Mister Jenkins, fahren Sie ein bisschen langsamer. Dem Jungen wird schecht.
Statt zu antworten steuerte Jenkins die nächste Serpentine so an, dass Siegfrieds Magen um ein Haar aus der Kurve getragen worden wäre. „Langsamer Jenkins, wenn Sie nicht den Nachmittag mit der Reinigung der Nubuksitze verbringen möchten“, sagte Doktor von Stackelmann scharf. Augenblicklich reduzierte Jenkins das Tempo.
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