Aber er wollte sich nicht als Ignorant outen, und deshalb meinte er tapfer: „Haute Cuisine ist für einen Superschurken einfach die angemessene Nahrung.“ Schließlich nahm er seinen Mut zusammen und fragte Lisa: "Was machst du eigentlich, wenn du nicht gerade Leute aus Kliniken entführst?"
„Ich gehöre zum Haus. Dr. von Stackelmann ist mein Onkel.“ „Cool. Dann kriegst du Privatunterricht. Welches Konzept in Quantenrechnerarchitektur wird den hier gelehrt? Das von Quimp oder das von Teschkolnikow?“ Lisa sah Siegfried fragend an. „Ich kriege hier keinen Unterricht in Kolnikow. Ich bin Assistentin des Lehrkörpers."
Sie sprach das Wort „Lehrkörper“ so aus, dass sich Siegfrieds Puls um etwa zehn Schläge beschleunigte. Er versuchte seine Reaktion mit einem Witz zu überspielen: „Die Klausuren liegen also auf deinem Rechner?“ fragte er frech. „Nein, ich unterrichte Amoral und Narzissmus. Übermorgen haben wir die erste Stunde. Ich weiß nicht, das Fach ist schwer in Worte zu fassen. Aber wenn du von mir unterrichtet wirst, dann merkst du schon, was ich meine.“ Mit ihrer etwas zu tiefen Stimme klangen Lisas Worte wie das Anzüglichste, was Siegfried in seinem Leben von einem Mädchen gehört hatte. Sein Gesicht fühlte sich daher so heiß an, als würde er mit Lisa in einer finnischen Sauna sitzen. Am besten war es, das Thema zu wechseln. Wenn Lisa Biokybernetik oder so etwas unterrichtet hätte, dann hätte er jetzt versucht sie zu beeindrucken. Aber Amoral und Narzissmus? Um ein Gespräch über dieses Thema in Gang zu halten, hätte er sich genauso blöd stellen müssen, wie er auf dem Gebiet wirklich war. Und das schien Siegfried so peinlich, dass er beschloss lieber den Mund zu halten.
Um irgend etwas zu tun, spießte er das kleine grüne Bällchen auf, das noch auf seinem Teller lag und schob es in den Mund. „Vorsicht“, rief Lisa, doch es war zu spät.
Siegfrieds Mund brannte wie Feuer. Zum Glück habe ich Ohren, wo der Dampf rauskann, dachte er. Schweiß rann über die Stirn. Ihm wurde heiß. Gleich würde sein T-Shirt an ihm kleben wie beim Wet-T-Shirt-Contest. „Drei Gramm Wasabi , nicht schlecht“, sagte Lisa.
Siegfried tastete nach seinem Weinglas und leerte es auf einen Schluck. Das machte das Brennen nicht besser. „Ein Glas Milch für den jungen Mann“, sagte Lisa zu einem der Diener. Nur wenige Sekunden später war der Diener zurück mit einem großen Glas Kuhsaft. „Trink das“, sagte Lisa zu Siegfried. „Milch ist das Beste, wenn man etwas zu Scharfes gegessen hat.“
Siegfried nahm ihr das Glas aus der Hand. Es roch ganz zart nach ihrem Parfum. Als er die Milch trank, mischte sich der Parfumduft mit dem weichen Milchgeschmack, als hätte Lisa musste das Glas irgendwie verzaubert. Die Milch schmeckte nach dem Blick, den man von einer Bergwiese in den blauen Sommerhimmel hat. Vor allem stellte sie das höllische Brennen in seinem Mund ab. „Danke“, sagte Siegfried. „Gern geschehen“, antwortete Lisa und der Klang ihrer Stimme heilte die wunden Ohrgänge, wo der Wasabidampf Siegfrieds Körper verlassen hatte.
Er schaute Lisa an und erschrak, denn irgendwie sah er sie doppelt. Ihre Bewegungen waren seltsam unscharf und auch ihre Stimme klang so, als hörte er zusätzlich ein leises Echo.
Das Glas, mit dem er versucht hatte, den Wasabi zu löschen, war die erste größere Menge Milch in den vergangenen Jahren. Seit er fünf war, hatte er aus irgendwelchen Gründen keine Milch mehr getrunken. Er fragte sich, ob er in der Zwischenzeit eine Art Allergie entwickelt hatte. Auf jeden Fall sah er um sich die seltsamsten Doppelbilder. Alle Bewegungen verschwammen zu einem seltsamen Gewirr, als würde man eine Szene mit achtzehn Sekunden Belichtungszeit fotografieren. Auch die Geräusche verschwammen zu einem seltsamen Brummen.
Siegfried war so benommen, dass er es für das Beste hielt, auf der Toilette zu verschwinden. Dort besprengte er sein Gesicht mit kaltem Wasser. Er schaute sich im Spiegel an, das Bild war wieder scharf. Solange er still hielt, sah er alles ganz normal. In dem Moment, in dem er sich bewegte, entstand ein Doppelbild. „Multiple Sklerose“ stöhnte er. „Ich habe Multiple Sklerose.“ Er würde ein Superschurke vom Typ „sadistischer Körperbehinderter“ werden. Im Rollstuhl sitzen mit einem Joystick zwischen den Zähnen. Mit einer Zungenbewegung Großstädte ausradieren, das war eigentlich nicht das, was sich Siegfried vom Leben erhoffte.
Er schwappte sich nochmals kaltes Wasser ins Gesicht und schaute sich im Spiegel an. Sein Gesicht sah er scharf, aber die Tropfen, die über sein Gesicht liefen, waren seltsam verschwommen. Was war das für eine Nervenkrankheit, bei der man ruhende Objekte scharf sah, und bewegte unscharf?
Warum hatte er nichts gegen seine Pickel unternommen, bevor er Lisa Tekiero kennen lernte?
Er beschloss zurück in den Bankettsaal zu gehen und für den Rest des Abends Lisas Anblick so gut es ging zu genießen.
07. In The Clearing Stands A Boxer (Simon and Garfunkel)
Gerade als Siegfried vom Badezimmer zurückkam, servierte ein Kellner die Morchelsuppe. Das Zeug sah aus wie die Lotionen, die der Dermatologe Siegfried gegen seine Pickel verordnet hatte und sie schmeckte sehr intensiv nach Pilzen. Siegfried fand, dass es leichter wurde die Brühe herunterzuwürgen, wenn der die Augen schloss und an Champignonpizza dachte. Er löffelte teilnahmslos die Suppe, doch Lisa ließ es sich schmecken.
Es gab noch Tortellini mit Hummerfüllung, Seeteufel mit safranisiertem Kürbisgemüse, zu dem Lisa meinte, es sei Verschwendung ein so gelbes Gemüse wie einen Kürbis auch noch zu safranisieren, was Siegfried zu der Bemerkung veranlasste, dass gelbes Zeug auch nicht viel besser sei als grünes Zeug. Der Hauptgang war ein Ragout vom Kalbsschwanz auf römische Art und zum Nachtisch gab es einen schweren Pudding mit kandierten tropischen Früchten. Zu Siegfrieds Beruhigung waren die Doppelbilder mit jedem Bissen schwächer geworden.
Irgendwann machte Siegfried den Versuch, sich auf eines der Bilder zu konzentrieren, und plötzlich sah er wieder scharf. Es war ein bisschen anstrengend und nicht sehr angenehm, aber es ging. Erstaunlicherweise war auch das Echo weg, wenn er auf ein Bild fokussierte. Er war so mit seinem Doppelbilderspiel beschäftigt, dass er nicht bemerkte, dass kurz nach dem Dessert Dr. von Stackelmann hinter ihrem Stuhl stand. Als der Schulleiter sich leise räusperte, fuhr Siegfried herum. „Es freut mich zu sehen, dass du dich mit meiner Nichte so gut verstehst“, begann er. „Deshalb bin ich untröstlich, dass ich dich für einen Augenblick entführen muss. Wir haben eine verdächtige Person dingfest gemacht. Außerdem haben meine Männer etwa dreißig Meilen von hier einen schwarzen Ford gefunden, den du dir aus der Nähe ansehen solltest.“ Siegfried sah von Stackelmann fragend an. „Er muss sich hier als Diener hereingeschmuggelt haben. Für den Begrüßungsabend brauchen wir immer mehr Personal als gewöhnlich, das uns vom örtlichen Arbeitsamt vermittelt wird. Er wollte sich mit dem bewussten Auto aus dem Staub machen. Gott sei Dank konnten wir das verhindern. Wir haben ihn auf frischer Tat in der Garage ertappt.“ Siegfried wischte sich den Mund ab und warf seine Serviette auf den Tisch. Er verabschiedete sich von Lisa und folgte Dr. von Stackelmann, der zusammen mit seinem Chefbutler auf den Aufzug neben der Treppe zusteuerte. „Am besten gehen wir durch den Weinkeller, dann werden wir nicht im Regen nass“, schlug von Stackelmann vor, als sie im Aufzug standen. Er drückte Minus 3 und geräuschlos setzte sich der Lift in Bewegung. Als die Tür des Aufzugs sich öffnete, standen sie einen Augenblick vor einer Wand aus Finsternis. Von Stackelmann klatschte in die Hände und aktivierte so einen Bewegungsmelder. Etwa ein Dutzend Lampen, die im Abstand von vier Metern von der Decke hingen, sprang gleichzeitig an. Siegfried sah einen Gang, der an einer Klinkerwand mit einer Eisentür endete. Rechts und links des Ganges zweigten lange Regalreihen ab, bis unter die Decke lagerte darin nichts als Weinflaschen, die dalagen und darauf warteten eines Tages getrunken zu werden.
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