Blitzartig fuhren die beiden Kerle herum. Sie ließen die bewusstlosen Kameraden im Gras liegen und rannten zu der Stelle, wo der Stein in die Schlucht gestürzt war. Der Suchscheinwerfer des Sierra unten an der Landstraße beleuchtete ihre massigen Körper von hinten. Im Licht des Suchscheinwerfers gaben die beiden ein leichtes Ziel ab. Weil das hohe Gras beim Zielen hinderlich war, sprang Cornelia kurz aus ihrer Deckung und drückte ab. Zwei Armbrustpfeile trafen die Wächter im Oberschenkel. Das enthaltene Betäubungsmittel ließ sie in Sekundenschnelle zusammenbrechen.
Jetzt war nur noch ein Gegner übrig. Cornelia van Bowdendonk musste nur noch den Fahrer des Sierra ausschalten. Dass der sich auch nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte, sah sie an den hektischen Kurven, die der Lichtkegel des Suchscheinwerfers beschrieb. Schließlich machte der Wächter den Fehler, den alle Jäger machen, die nicht einsehen wollen, dass sie zum Gejagten geworden sind. Er stieg aus dem Sierra. In der Hand hielt er etwas, das aussah wie eine 65er Pumpgun. Mit einer Fernbedienung ließ er den Suchscheinwerfer über das Gelände huschen ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, wie leicht er zu treffen war. Der Betäubungspfeil traf ihn genau in den Brustmuskel. Cornelia musste sich beim Zielen gar nicht besonders anstrengen, denn der Bursche hatte einen Pectoralis wie jemand, der über ein paar Jahre seines Lebens hinweg lange Gefängnistage mit Bankdrücken verbracht hatte. Als der letzte Gegner bewusstlos zusammengrebrochen war, rannte Cornelia zum Sierra. Sie drehte den schweren Körper auf den Rücken, um ihrem Gegner ins Gesicht zu sehen. Es war ein dreißigjähriger Mann mit Pickeln im Gesicht, wie man sie vom jahrelangen Anabolikaschlucken bekommt.
Leise pfeifend setzte sie sich an das Steuer des Sierra. Sie löschte alle Lichter und dann steuerte sie den Wagen auf Siegfrieds Signal zu. Sie dachte an NBA-Teams, die ein Playoff-Spiel in der gegnerischen Halle gewonnen haben. "Wir sind jetzt auf dem Fahrersitz", pflegen die Coaches in der Situation zu sagen. Im übertragenen Sinne stimmte das vielleicht noch nicht, aber ihre Chancen Siegfried zurückzuholen standen auf alle Fälle besser als eins zu einer Million.
11. Doin´ A Thing Called The Crocodile Rock (Elton John)
Nach der warmen Dusche wollte Siegfried die Treppe in den Speisesaal nehmen, aber seine Oberschenkelmuskeln weigerten sich bergab zu gehen. Also kehrte er nach drei Stufen um und nahm den Aufzug.
Das Frühstücksbuffet war gerade frisch aufgebaut, als Siegfried ankam. Er und Dr. von Stackelmann waren die ersten, die frühstückten. Der Schulleiter hatte nur eine Scheibe Toast, etwas Butter und Honig sowie eine Orange vor sich liegen. Siegfried dagegen hatte, Diner vom Vorabend hin oder her, nach der Nahkampfstunde ordentlichen Hunger. Er nahm sich einen Haufen Rührei mit Speck aus dem Warmhalter, türmte darauf so viele Bratwürstchen wie er glaubte nach den Gesetzen der Statik auftürmen zu können und klemmte ein halbes Dutzend Brotscheiben unter seinen Arm. Mit einem Blick überzeugte er sich, dass auf jedem Frühstückstisch eine große Flasche Heinzketchup stand. Er wandte dem Buffet den Rücken zu, war aber fest entschlossen, noch einmal für ein paar Stücke von dem goldbraun gebackenen Plundergebäck zurückzukehren.
Einen Moment war er unschlüssig, ob er sich zu von Stackelmann setzen sollte. Einerseits fand er es streberhaft, dem Schulleiter so auf die Pelle zu rücken. Andererseits wirkte es übertrieben abweisend, wenn er sich in dem leeren Speisesaal an einen anderen Tisch setzte. Er beschloss von Stackelmanns Blick zu suchen. Sollte der doch signalisieren, ob ihm Siegfrieds Gesellschaft recht war.
In dem Moment winkte von Stackelmann ihm zu. Siegfried balancierte sein Tablett zum Tisch des Schulleiters. „Du bist ja ein echter Frühaufsteher, Siegfried“, begrüßte ihn von Stackelmann. „Ich brauche nur zwei Stunden Schlaf, Sir. Und ich bin immer froh, wenn ich etwas finde, das ich dann noch anstellen kann, bis die anderen auch endlich wach sind. Danke für die Karatestunde.“ „Gern geschehen. Weißt du, ich bin ein leidenschaftlicher Lehrer. Fahrzeugtechnik, Nahkampf, Kryptographie, es ist mir egal, was ich anderen beibringe. Mich fasziniert das Lehren an sich. Am reizvollsten finde ich Anfänger. Man muss auf jede Kleinigkeit achten, damit sich keine grundsätzlichen Fehler einschleichen. Und man muss als Lehrer für sich die Frage geklärt haben, was ist das Fundament, auf dem die ganze Kunst ruht? Das gilt es vom ersten Augenblick an zu vermitteln.“ „Und wie sieht dann die erste Lektion für Superschurken aus? Was ist das Fundament, auf dem die ganze Kunst ruht?“ wollte Siegfried wissen. „Narzissmus und Amoral“, antwortete von Stackelmann. Siegfried fiel ein, dass das Lisas Fächer waren. „Aber das Problem ist, das lässt sich nicht lehren, das hat man im Blut. Weißt du, Siegfried, unter den Gegnern der Superhelden, unter den echten Superschurken, gibt es alle möglichen Typen. Praktisch alle sind hochintelligent, aber das reicht nicht aus. Wenn jeder mit einem IQ von 150 oder mehr nach der Weltherrschaft streben würde, dann wäre die Welt ein einziges Schlachtfeld. Dann hätten wir nicht nur Darfour, Afghanistan, Korea, Burundi, sondern auch den Krieg zwischen Nord- und Südkansas und Gott weiß was noch alles. Superschurken verfügen zusätzlich über Narzissmus und Amoral.“ Siegfried schaute ihn fragend an.
Von Stackelmann schaute auf seine Uhr. „Jetzt ist es halb sechs, der Unterricht beginnt um sieben, da haben wir noch Zeit für eine weitere Lektion. Komm mit.“ Siegfried fühlte sich ziemlich überanstrengt und hatte keine Lust auf ein weiteres Nahkampftraining. „Kein Nahkampf“, sagte von Stackelmann, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Amoral.“ Er ging zum Buffet, schnitt sich ein Stückchen Gruyere ab und verließ damit den Speisesaal.
Sie gingen durch den Park in Richtung des kleinen Wäldchens vor dem Schloss. Während sie wortlos nebeneinander hergingen, holte von Stackelmann sein iphone aus der Tasche und wählte eine Nummer. „Ah, Jenkins, schön, dass Sie da sind. Könnten Sie freundlicherweise mit den Lefaucheux zum Badesee kommen. Ja, die mit dem Laservisier. Ja, ja und vorher die Schleuse öffnen.“ Von Stackelmann führte ihn durch ein Wäldchen, bis sie zu einer Lichtung von der Größe eines Fußballfeldes kamen, die gut zweihundert Meter vom Schlossgebäude entfernt lag. In der Mitte der Lichtung lag ein kleiner See. Zwischen See und Schloss lag ein Grashügel, der an einer Seite mit einer glatten Wand in den See abfiel. Der Morgennebel kroch noch über den See, aus dem Schilf hörte Siegfried das Lied eines Teichrohrsängers. Am Ufer stand Jenkins. Über jeder seiner Schultern hing an einem schwarzbraunen Lederriemen eine Doppelflinte. „Ich bringe die Flinten, Sir. Die Schleusen sind geöffnet, wie Sie es gewünscht haben.“ „Herzlichen Dank, Jenkins.“ Jenkins reichte eine Flinte Dr. von Stackelmann, die andere gab er Siegfried. „Schon mal geschossen, Siegfried?“ wollte der Schulleiter wissen. „Nein, Sir.“ „Ich bitte dich, das hier ist Amerika“, mokierte sich der Schulleiter.
Er legte die Flinte an und zielte. Der Strahl des Laservisiers drang durch den Nebel, der über dem See hing.
Jenkins reichte Siegfried seine Lefaucheux-Flinte. Siegfried nahm die Waffe entgegen, dann sah er von Stackelmann unschlüssig an. „Das Laservisier schaltet sich automatisch ein, wenn du den Kolben des Gewehrs an deine Schulter drückst. Die Hähne spannst du mit der Hand. Wenn du vorsichtig abdrückst, feuerst du einen Lauf nach dem anderen. Wenn du den Abzug durchziehst, feuern beide Läufe gleichzeitig.“ Siegfried tat es dem Schulleiter nach und dann ließ er den Strahl des Laservisiers ein wenig durch den Nebel tanzen, um ein Gefühl für die Waffe zu bekommen. „Bist du bereit, Siegfried? Ich werfe jetzt den Käse ins Wasser. Du spannst beide Hähne und visierst die Stelle an, wo der Käse im Wasser schwimmt. In dem Moment, wo der Käse verschwindet drückst du ab. Verstanden?“ Siegfried nickte und spannte beide Hähne. Mit einem leisen Platschen landete der Gruyere in der Mitte des Sees. Siegfried brauchte ein paar Sekunden, bis der Laserstrahl auf das Käsestück zeigte, das friedlich in der Mitte des Sees schwamm.
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