Lisa drückte auf einen Knopf und geräuschlos senkten sich die Seitenfenster nach unten. Gierig sog Siegfried die kühle Bergluft ein. Im nächsten Moment aber war der Bugatti im Gewitter angekommen und dicke Regentropfen klatschten ins Wageninnere. In unwilligem Ton befahl von Stackelmann Lisa, die Fenster zu schließen.
Ohne dass ein weiteres Wort fiel, erklomm der Bugatti den Gewitterberg. Nach zwanzig Minuten stoppte der Wagen vor einem schweren schmiedeeisernen Schlosstor.
Ein rötliches Lasergitter glitt über den Wagen, dann gab Jenkins mit dem Frontscheinwerfer ein Signal ab. Schließlich öffnete sich das Tor wie von Geisterhand und Jenkins steuerte den Bugatti über einen knirschenden Kiesweg bis vor das Hauptgebäude. Siegfried erkannte nicht viel von dem Gebäude, denn er blickte durch getönte Scheiben in eine vom Gewitterregen verdunkelte Nacht. Er erkannt lediglich eine Sandsteintreppe, die zu einer Glastür führte, aus der warmes, ockerfarbenes Licht drang.
Der Bugatti war kaum eine Sekunde lang zum Stehen gekommen, schon waren zwei Diener im grauen Livree zur Stelle. Einer hielt einen schwarzen Regenschirm mit einem Griff aus Kirschholz über die Wagentür, sodass Siegfried, Lisa und Doktor von Stackelmann beim Aussteigen vor dem Regen geschützt waren. Jenkins fuhr den Wagen Richtung Garage. Siegfried blieb nach dem Aussteigen nicht viel Zeit, das Schulgebäude zu mustern. Es sah wirklich so beeindruckend aus wie auf der Titelseite des Hochglanzprospektes, den Lisa ihm zum Anschauen gereicht hatte. Im Licht der gelegentlichen Blitze sah er ein neugotisches Gebäude mit Erkern und Türmchen, das mit ockerfarbenem Sandstein ziemlich weit in den Himmel hineingemauert worden war. Das einzige, was an dem Gebäude nicht neugotisch aussah, war ein hell erleuchteter Quader, der auf Höhe der Dachtraufe dem Gebäude vorgelagert war. Er hatte etwa die Größe eines Schiffscontainers, bestand aber aus weißem Metall oder Kunststoff, das war von so weit unten nicht zu erkennen. In der Front des Quaders befanden sich zwei große Panoramafenster. Wer auch immer dort oben lebte oder arbeitete, Siegfried beneidete ihn um den grandiosen Blick, den er von den beiden Panoramafenstern aus haben musste. Insgesamt fand Siegfried, dass der Vorbau genauso wenig zum Gebäude passte wie alle modernen Stahl-und Glaskonstruktionen die Architekten an historische Gebäude hinhunzen.
In der Eingangshalle empfing die drei ein prasselndes Kaminfeuer. Siegfried blieb keine Zeit, sich daran zu wärmen oder das ockerfarbene Licht der Halle auf sich wirken zu lassen. „In achtundzwanzig Minuten und dreißig Sekunden beginnt der Empfang“, hörte er Doktor von Stackelmann sagen. "Gooseberg hilft dir deine Sachen auf dein Zimmer zu bringen. Pünktlich um 18 Uhr 30 findest du dich bitte in der Eingangshalle ein. Ich halte eine kleine Begrüßungsrede und danach gibt es ein Diner, das du ebenso wenig verpassen solltest. Sei so gut und zieh dich um. Der Schlafanzug ist eine Spur zu lässig für den Anlass."
Siegfried stand mit einem Mal halb tot vor Peinlichkeit in der Eingangshalle. Die ganze Entführung war so verworren gewesen, dass ihm nicht einmal bewusst geworden war, dass er die Strecke nach Darnwolt im Schlafanzug zurückgelegt hatte. Sofort schoss sein Blick zu Lisa Tekiero, doch die schaute ihn ganz unverwandt an, als würde sie jeden Tag Jungs im Schlafanzug kidnappen. Arthur Dent fiel ihm ein und einen Augenblick machte er sich Sorgen, ob von Stackelmann neben seiner Rede auch noch ein paar selbst verfasste Gedichte vorlesen würde.
Siegfried wurde von einem Diener nach oben geleitet, der die Figur einer Stabheuschrecke hatte. Der Kerl war dürr, aber unglaublich drahtig. Seine Pranken waren groß wie Bratpfannen. Seine Arme waren so lang, dass die Ärmel seines Hemdes nicht ausreichten, um die Tätowierungen auf seinen Unterarmen ganz zu bedecken. Stabheuschrecke wies mit einer ungelenken Geste die Treppe hinauf, als hinter ihm Jenkins´ Kommandostimme ertönte. "Gooseberg", rief der Butler und warf dem Diener Siegfrieds Tasche zu. Stabheuschrecke fing die Tasche geschickt auf und trug sie für Siegfried in den zweiten Stock. „Zimmer 208, Sir“, sagte die Stabheuschrecke, als sie vor Siegfrieds Zimmer standen. Er öffnete die schwere Eichentür und Siegfried sah in ein dunkel getäfeltes Zimmer, in dessen Mitte ein monströses Himmelbett stand. Rechts vom Fenster stand ein Schreibtisch, ebenfalls aus dunklem Holz, darauf ein Mac mini mit einem 33 Zoll Cinema Display. Der Diener stellte Siegfrieds Tasche vorsichtig auf den Boden. „Soll ich beim Auspacken helfen, Sir?“ „Nein, danke, das mache ich schon“, antwortete Siegfried nach einer Weile, in der er mit offenem Mund das palastartige Zimmer begutachtet hatte. „Eine Sache noch, Sir: Das Türschloss ist sprachgesteuert und besitzt eine Stimmerkennung“, hörte Siegfried den Diener sagen. „Zur Zeit reagiert es auf meine Stimme, wie sie gemerkt haben. Sie sollten, bevor Sie zum Empfang gehen, noch auf Ihre Stimme umstellen. Sprechen Sie einfach das gewünschte Codewort in das Mikrofon, während die Türe geöffnet ist. Lassen Sie sich nicht dabei beobachten, und vergessen Sie das Codewort nicht. Denn die Eingabe falscher Codewörter oder richtiger Codewörter mit der falschen Stimme aktiviert das Sicherheitssystem. Und nehmen Sie nicht Hasberg als Codewort.“ Plötzlich hatte es der Diener sehr eilig, so als hätte er etwas furchtbar Dummes gesagt. „Also dann, Sir, in 21 Minuten und 45 Sekunden beginnt der Empfang.“ Mit zwei schnellen Schritten war der Lange verschwunden.
06. I Love To Live So Pleasantly, Live This Life of Luxury (Kinks)
Siegfried wollte tanzen vor Freude. „Ich bin drin“, sagte er wieder und wieder, manchmal klang es nach Boris Becker in seinem AOL-Werbespot, manchmal nach Robert Redford in „Sneakers“ und manchmal war es einfach nur ein triumphierender Schrei.
Siegfried ging bei aller Euphorie das seltsame Benehmen des Dieners nicht aus dem Kopf. Hasberg sollte er nicht als Passwort nehmen. Wie kam der Kerl darauf? Was hatte er mit jemandem namens Hasberg zu tun? Seltsamerweise hatte Siegfried das todsichere Gefühl, dass er den Namen schon mal irgendwo gehört hatte. Aber wo? Und wie kam es, dass jetzt dieser Diener damit anfing? Siegfried beschloss angesichts der knappen Zeit bis zum Empfang keine weiteren Gedanken darauf zu verschwenden. Er holte seine Levis, das Hanes-Shirt und die Nikes aus der Tasche und kleidete sich für den Empfang. Dann sicherte er das Türschloss, wie es der Diener erklärt hatte, und begab sich nach unten.
Siegfried ging in Gedanken versunken die zwei Stockwerke hinunter. Wo hatte er den Namen Hasberg schon einmal gehört? Er stand auf dem letzten Treppenabsatz, bevor es in die Eingangshalle ging, als es ihm einfiel. Hasberg war der Mädchenname seiner Mutter. Nimm nicht den Mädchennamen deiner Mutter als Passwort, das stand in jeder Computerfibel für Anfänger. Aber woher kannte Gooseberg Cornelia van Bowdendonks Mädchennamen? Was wollte der Lange ihm mit seiner Warnung sagen? Siegfried beschloss das Nachdenken auf später zu verschieben. Stattdessen genoss er den Blick in den feierlich erleuchteten Empfangssaal. Der Kronleuchter war auf halbe Kraft gedimmt, in den Ecken des Raumes standen Deckenfluter, die ein warmes gelbes Licht auf die in herbstlichem Rot getünchten Wände warfen. An der Stirnseite des Raumes stand ein schwerer etwa sieben Meter langer mit weißem Leinen eingedeckter Tisch. Darauf lockten Schüsseln mit Salzmandeln und anderen Knabbereien, es gab Coca Cola und in der Mitte stand ein Rührgerät, in dem grüne Oliven in einer gelben Flüssigkeit gemächlich im Kreis bewegt wurden. Etwas verloren in dem großen Raum standen ein Dutzend Diener und etwa zwanzig Jugendliche in Siegfrieds Alter, Mädchen und Jungen. Die Kinder hielten Abstand voneinander, schließlich handelte es sich ausnahmslos um angehende Superschurken, denen der Sinn nicht nach Smalltalk mit Fremden stand.
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