Ihre Mum schaute sie interessiert an, aber Melli war jetzt zu erschlagen, um ihr das Gespräch zu erklären. Sie wollte auch ihren Joghurt nicht mehr aufessen. Ihr Vater schaute sie an und fragte sie, ob sie nicht nach oben in ihr Bett liegen wolle. Melli nickte mit dem Kopf. Schlafen war das, was sie jetzt wollte. Irgendwie hatte sie das Ganze doch sehr mitgenommen. Oder waren es die Medikamente, die sie so ausknockten?
Im Bett konnte sie dann doch nicht schlafen. Sie machte sich Gedanken über die Presswurst-Gang. Ob Kristin und Nadine tatsächlich von der Schule flogen? Es war ja nicht in der Schulzeit passiert. Allerdings hätten sie Mittagsunterricht gehabt. Vielleicht waren sie nach der fiesen Aktion wieder in die Schule gegangen. In der Mittagspause musste man nicht auf dem Schulgelände bleiben. Melli war gespannt, was dabei herauskam. Sicher war, dass sie nicht kuschen würde. Deswegen fand sie die Idee ihres Vaters toll, einen Kampfsport zu lernen. Mit diesen Gedanken döste Melli dann doch noch ein.
Sie wachte erst am nächsten Morgen wieder auf. Was für ein Tag war heute? Es war ruhig im Haus. Ihr Wecker zeigte 7.24 Uhr. Es war Sonntag, klar. Sonst würde Mum schon Krach machen. Melli bewegte sich und stöhnte. Ihr Kopf tat wieder weh. Schlagartig war die Erinnerung wieder da. Sie versuchte, so still wie möglich da zu liegen, damit das Schädelbrummen im Rahmen blieb. Leider nutzte das nichts. Einmal bewegt und schon war’s vorbei. Da sie auf die Toilette musste, stand sie auf und ging in das Bad. Aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern drangen leise, aber unverkennbare Laute. Ihre Eltern hatten Sex. Schön, dass wenigstens jemand in diesem Haus Spaß hat, dachte sie etwas zynisch. Klar, Melli war froh, dass ihre Eltern sich immer noch liebten und offensichtlich auch immer noch Freude daran hatten, miteinander zu schlafen. Das konnte sie sich bei manch anderem Ehepaar gar nicht vorstellen. Die gingen auch im Alltag nicht so liebevoll miteinander um. Irgendwie ausgelutscht, die Beziehung, dachte sie dann. Ihre Eltern waren Gott sei Dank anders. Vielleicht lag es daran, dass ihr Vater so oft weg war. Mum freute sich immer, wenn er wieder kam, gleichzeitig genoss sie aber auch die Freiheit, ihren Tag so zu gestalten, wie sie wollte, wenn er geschäftlich unterwegs war. Ihr Vater war ein Familienmensch, der seine zwei Hühner, wie er sie nannte, über alles liebte. Als Melli zum ersten Mal ähnliche Laute aus dem Schlafzimmer hörte, dachte sie, ihre Mutter habe einen Albtraum und wollte ihr helfen. So platzte sie mitten in das Liebesspiel ihrer Eltern, was zum Einen ziemlich peinlich gewesen war, auf der anderen Seite hatte sie jetzt eine ziemlich realistische Vorstellung davon, wie Babies zustande kamen. Damals war sie 11 Jahre alt gewesen. Ihre Eltern hatten sich voneinander gelöst und sie ins Schlafzimmer gebeten. Aus dem Coitus interruptus wurde ein Kissen-Sit-in gemacht und ihre Eltern hatten ihr ganz toll erklärt, warum sie gerne miteinander schliefen, wie schön das für Mann und Frau sein konnte und dass Melli sich nicht sorgen musste, wenn solche Geräusche zu hören waren.
»Und wenn du wirklich einen Albtraum hast?«, hatte Melli gefragt.
»Wenn Papa nicht da ist, dann kommst du herein. Ansonsten ist er dafür verantwortlich, wenn ich so laut bin«, hatte ihre Mum schelmisch geschmunzelt.
»Dafür übernehme ich gerne die Verantwortung!« war von Melli’s Vater zurückgekommen.
Als Melli an diesen Sonntagmorgen zurück dachte, musste sie grinsen. Damals war sie ja auch noch klein gewesen. Sie ging in die Küche und holte sich ein Schüsselchen Joghurt, ein Glas Wasser und Kopfwehtabletten. So bewaffnet schlich sie wieder in ihr Zimmer, wo sie es sich in ihrem Bett gemütlich machte. Allerdings stellte sie fest, dass es ziemlich langweilig war, wenn man so gar nichts machen konnte. Sie hatte versucht zu lesen, was heftige Kopfschmerzen zur Folge hatte. Fernsehen mochte sie nicht. Also lag sie im Bett und wartete, dass die Stunden herumgingen. Ihre Eltern standen recht spät auf, aber dann versuchten sie Melli irgendwie zu unterhalten. Ihr Vater kam auf die Idee, ›Mensch ärgere dich nicht‹ zu spielen.
»Da musst du nicht viel dabei denken, und kannst im Bett liegen bleiben«, meinte er. So brachten sie den Tag herum. Melli’s Vater fuhr am Montag Morgen wieder weg, aber nicht ohne seine zwei Frauen daran zu erinnern, alle Kampfsportschulen anzurufen und die Konditionen zu erfragen. Sobald Melli wieder auf dem Damm war, wollte er sie in einer anmelden.
Melli’s Mum hatte sich die ganze Woche frei genommen, da sie Melli nicht alleine lassen wollte. Außerdem stand an diesem Morgen ein Gespräch mit der Schulleitung an. Anita Großmann machte der Schulsekretärin am Telefon klar, dass sie so schnell wie möglich ein Gespräch mit der Direktorin und der Klassenlehrerin wollte. Sie berichtete den Vorfall vom Freitag knapp und entschuldigte Melli für die nächsten zwei Wochen. Nach einer Stunde rief Frau Dr. Schmidt zurück und Anita Großmann setzte sich zu einem längeren Gespräch in ihr Büro. Danach zog sie sich um. Von oben bis unten gestylt kam sie zu Melli, die es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht hatte und erzählte ihr von dem Gespräch mit der Schulleiterin.
»Frau Dr. Schmidt möchte sofort ein Treffen, da deine Klassenlehrerin in der nächsten Stunde eine Leerstunde hat. Hast du alles, was du brauchst? Es wird bestimmt eine Stunde dauern, bis ich wieder zurück bin.«
»Mum, ich bin zwar nicht gerade fit, aber deswegen auch nicht zum Kleinkind mutiert. Klar kannst du gehen. Du hättest auch zur Arbeit gehen können. Ich kann hier auch alleine herum hängen. Es muss dir ja nicht mitlangweilig sein.«
Anita Großmann lächelte ihre Tochter an. »Da ich dich bedienen und verwöhnen darf und im Haus herumwerkeln kann, wird es mir wohl kaum langweilig werden. Tschüss, meine Große.«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ das Haus.
Während Melli wirklich gelangweilt auf dem Sofa lag, saß Anita Großmann mit den beiden Lehrerinnen zusammen und berichtete, was passiert war. Den Befund des Krankenhauses hatte sie bei sich.
Fr. Dr. Schmidt erkundigte sich bei Frau Schildknecht, ob es schon Vorfälle mit den Mädchen gegeben hätte, die darauf hingewiesen hätten, dass es zu so einer Gewalttat hatte kommen können. Frau Schildknecht nickte.
»Ja, im Sportunterricht kam es schon zu Zwischenfällen. Beim Handball gab es massive Fouls an Melissa Großmann von den Mädchen, die jetzt auch am Busbahnhof dabei waren. Ein Foul war so grenzwertig, dass Frau Sterk ein Gewaltverfahren anmeldete. Kristin Dineidis hatte beim Spiel ihren Ellenbogen so in Melissa’s Magen gestoßen, dass diese umfiel. Melissa ist danach vom restlichen Unterricht befreit und nach Hause geschickt worden. Kristin Dineidis hatte die Auflage, sich bei Ihnen zu melden.« Die Rektorin sah Frau Sterk sinnierend an. »Jetzt erinnere ich mich. Ich habe den Termin für diesen Fall in diese Woche gelegt.« Zu Anita Großmann gewandt sagte sie erklärend, »Die ersten Tage, wenn die Schule beginnt, bin ich so mit der Koordination im Haus beschäftigt, dass ich kaum Zeit für etwas anderes habe. Dass die Sache derart eskalieren konnte, ist furchtbar und inakzeptabel! Da geht offenbar eine sehr große Gewaltbereitschaft von dieser Gruppe aus.« Anita Großmann berichtete, was die Polizei ihnen erzählt hatte.
»Diese Kristin und auch die andere, wie hieß sie noch gleich ... Nadine, ja genau, sind der Polizei bekannt, da sie schon einmal wegen Körperverletzung angezeigt worden waren. Da sie damals aber beide unter 16 Jahre alt waren, blieb es bei einer Ermahnung. Dieses Mal wird es nicht so leicht für die beiden sein, da wir eine Privat-Anzeige wegen Körperverletzung gemacht haben. Mein Mann und ich werden dafür sorgen, dass die beiden es sich überlegen, ob sie noch einmal einen anderen Menschen so misshandeln!«
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