»Dazu muss mir aber jemand die Infusion wegmachen. Damit kann ich wohl schlecht nach Hause gehen. Melli’s Mutter wollte sich auf den Weg machen, um eine Krankenschwester zu suchen, als Melli sie stoppte.
»Das macht man hier anders!«, und drückte auf die Klingel an ihrem Bett. Gleich darauf kam eine Schwester in das Zimmer.
»Können Sie mich bitte von dem Ding hier befreien? Ich wollte damit nicht nach Hause gehen!«
Die Krankenschwester schaute sie etwas verwirrt an.
»Sie dürfen nach Hause? Wer hat das veranlasst?«
Melli’s Mutter hob den Arztbrief in die Höhe.
»Der Stationsarzt.«
»Ach, er hat uns noch gar nichts gesagt. Ja gut, ich komme gleich.«
Die Krankenschwester war ebenso schnell wie alle anderen vor ihr, aus dem Zimmer draußen.
»Entweder sind die hier völlig überlastet oder sie haben alle keine Lust, sich mit den Patienten abzugeben«, meinte Anita Großmann. Nach einigen Minuten erschien die Krankenschwester wieder, entfernte Melli’s Infusion und nach einer knappen Verabschiedung schloss sich die Tür hinter ihr. Melli zog sofort ihre Jeans und ihr T-Shirt an und war bereit zu gehen.
»Nichts wie weg hier! Bin ich froh heimgehen zu dürfen.«
Melli’s Vater nahm ihre Tasche, Anita Großmann hakte sich bei Melli unter und so verließen sie das Krankenhaus.
Zuhause legte sich Melli gleich auf das Sofa, das im Wohnzimmer stand. Ihre Mum hatte ihr ein paar Kissen und eine leichte Decke hingelegt.
»Geht es dir gut, meine Große?«, fragte ihr Vater. Melli schüttelte den Kopf.
»Ich bin ziemlich ko und die Kopfschmerzen sind wieder stärker geworden.«
»Möchtest du eine Kopfwehtablette?« Melli’s Mum lief schon zum Medikamentenschrank. Sie kam mit einer Packung Tabletten und einem Glas Wasser zurück.
»Hier und viel trinken. Manchmal bekommt man Kopfschmerzen, wenn man zu wenig getrunken hat«, erklärte sie. Melli nahm eine Tablette und trank brav das Glas leer.
»Du solltest eigentlich etwas essen.« Anita Großmann schaute ihre Tochter nachdenklich an. »Die Frage ist nur: Was magst du gerne essen, was du auch gut verträgst mit deinem angeschlagenen Bauch?«
»Gib mir doch etwas von deinem selbstgemachten Joghurt. Der schadet bestimmt nicht.«
»Das ist eine gute Idee, ein bisschen Banane dazu, ist das o. k.?«
»Ja klar, danke Mum.«
Ihre Mutter verschwand in der Küche. Ihr Vater setzte sich zu Melli in einen Couchsessel. Forschend sah er seine Tochter an, »Jetzt hätte ich gerne von dir alle Daten und Fakten gehabt, die zu dem Zusammenstoß geführt haben.«
Melli erzählte ihrem Vater die ganze Geschichte, ohne irgendetwas auszulassen oder zu beschönigen.
»Das scheint eine recht aggressive Bande zu sein. Bevor wir in das Krankenhaus zu dir kamen, hat die Polizei schon angerufen und erste Informationen gehabt. Unter anderem, dass zwei der Mädchen schon einmal aufgefallen waren. Die, die dich getreten hat und diese Kristin. Bei diesem letzten Vorfall sind beide mit einer Verwarnung davon gekommen. Dieses Mal wird es eine Maßnahme geben, die Sache wird vor das Jugendgericht kommen.«
Melli bekam runde Augen. »Was für ’ne Maßnahme?«
»Wenn ein Jugendlicher straffällig wird, bekommt er Auflagen. Das sind unter anderem Soziale Stunden, die geleistet werden müssen, Anti-Aggressions-Trainings und Soziale Gruppenarbeit. Normalerweise sind Jugendliche, je nach Straftat, ein Jahr lang in so ein Programm involviert. Verstößt einer gegen diese Auflagen, kann es auch zur Jugendhaft kommen.«
Autsch, dachte Melli, das hatten sich die Michelin-Männchen bestimmt nicht so gedacht. Obwohl, wenn Kristin und Nadine schon einmal etwas angestellt hatten, dann hatte man sie doch bestimmt schon vorgewarnt. Vielleicht waren sie noch doofer, als sie gedacht hatte.
»Ich werde dich unter diesen Umständen in eine Kampfsportschule stecken«, meldete sich ihr Vater wieder zu Wort. »Das nächste Mal kannst du dich wehren, so viel ist sicher. Heutzutage sollte jedes Mädchen in deinem Alter so eine Ausbildung haben. Ich werde mich umhören, was man hier in der Umgebung anbietet.«
»Andi ist im Judo«, überlegte Melli, die den Vorschlag ihres Vaters gut fand, »nur sah das ziemlich langweilig aus. Wenn, dann würde ich lieber richtig kämpfen, so wie bei Kung Fu oder Karate!«
Ihr Vater lächelte, »Ist klar. Nicht, dass ich nicht selbst darauf gekommen wäre. Aber ich bin froh, dass du so geraten bist, auch wenn dein loses und spitziges Mundwerk dich manchmal in Bredouille bringt.«
»Brädulie? Was ist das denn?«
»Bredouille bedeutet, Bedrängnis oder Verlegenheit. Ein französisches Wort, das eigentlich Matsch oder Schlamm bedeutet. Also wenn man in ›Bredouille steckt‹, dann steckt man im Matsch fest. Und in einer Zeit, als man einsam mit einer Kutsche auf unbefestigten Landstraßen unterwegs war, eine schlimme Situation.«
»Aha, so etwas lernen wir in Französisch natürlich nicht. Wäre doch auch mal spannend, alle Fremdwörter, die wir Deutschen nutzen, zu zerlegen, so wie du das gerade gemacht hast.«
Anita Großmann brachte den Joghurt, für jeden eine Müslischale voll. Die drei saßen behaglich in ihrem Wohnzimmer und aßen genüsslich. Prompt klingelte das Telefon. »Es wäre ja auch zu schön ..«, murmelte Melli’s Mutter. Sie lief zum Telefon.
»Großmann«, meldete sie sich. »Ja, das stimmt. Warte Andi, ich frage Melli, ob sie mit dir fünf Minuten reden kann. Sie hat noch arge Kopfschmerzen durch die Gehirnerschütterung.« Und zu Melli gewandt, »Melli, magst du ein paar Minuten mit Andi telefonieren?«
»Ja, ein paar Minuten geht das schon«, antwortete Melli. Sie bekam von ihrer Mutter den Hörer in die Hand gedrückt.
»Hi, Andi.«
Andi war richtig außer sich. »Sag mal, stimmt das, was sie beim Bäcker erzählen?« fragte er Melli.
»Wenn du mir verrätst, was für Klatsch gerade verbreitet wird und was du ganz speziell meinst, kann ich dir diese Frage vielleicht beantworten«, antwortete sie.
»Na, dass du einen Unfall hattest und im Krankenhaus bist.«
»Also wenn ich im Krankenhaus wäre, könntest du schlecht über unseren Festanschluss mit mir telefonieren. Unfall ist vielleicht auch etwas zu vage ausgedrückt, ich bin in das Knie von Nadine geraten. Wobei es eine abgekartete Sache der Presswurst-Gang war.«
Andi gab einen undefinierbaren Zischlaut von sich. »Ich habe dir doch gesagt, dass du die nicht zu sehr provozieren sollst. Mit denen ist nicht gut Kirschen essen.«
»Wie wenn es einen Sinn macht, wenn alle kuschen, dann werden die nur noch frecher! Übrigens sind Kristin und Nadine der Polizei schon bekannt. Die machen so etwas nicht zum ersten Mal. Nur dieses Mal hat es wohl ein größeres Nachspiel. Vielleicht findet dann so etwas wie eine Erleuchtung bei denen statt.« Andi glaubte nicht an Wunder, er wollte sich nur nicht zu einer ausführlicheren Diskussion mit Melli einlassen. Ihre Mutter hatte etwas von Gehirnerschütterung gesagt.
»Warst du denn wirklich im Krankenhaus?« fragte er Melli.
»Ja, mit Krankenwagen und Tatütataa, so wie es sich gehört. Gehirnerschütterung stimmt, deswegen muss ich viel herumliegen, aber wenigstens hatte ich keine inneren Blutungen.«
Andi war ehrlich geschockt. »Das sind echt brutale Assi-Weiber. Bin gespannt, ob die nicht von der Schule fliegen. Aber jetzt lass ich dich besser in Ruhe. Ist es o. k., wenn ich dich Montag nach der Schule besuche?«
»Ja, klar. Ich hoffe, dass es meinem Kopf dann etwas bessergeht.«
»Bei dem Kopf kann das schwierig werden«, feixte Andi.
Melli lächelte. »Ich werde schön brav sein, dann müsste das schon funktionieren. Ciao dann.«
Melli legte auf. Andi hatte sich anscheinend von alleine wieder eingekriegt. Trotzdem wollte sie mit ihm über den Eklat in der Schule reden.
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