Herr Niewöhner lächelte sie kalt an.
»Merken Sie sich: Ich kann fast alles! Und den Arrest bekommen Sie auch nicht wegen der fünf Minuten Verspätung, sondern aufgrund Ihres aufsässigen Verhaltens. Wie ich das ahnde, liegt in meinem Ermessen.« Melli gab noch nicht auf.
»Ich werde mit dieser Sache zur Rektorin gehen. Das lasse ich so nicht auf mir sitzen!«
Herr Niewöhner’s Grinsen wurde noch breiter.
»Sie glauben doch nicht, dass die Frau Direktorin im Moment Zeit für so einen Blödsinn hat? Bei der Menge an organisatorischen Entscheidungen, die gerade anstehen, hat sie gar keinen Nerv, sich um solche Lappalien zu kümmern. Und jetzt wäre ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn wir uns dem Stoff zuwenden könnten, ihre persönlichen Statements interessieren hier niemanden.«
»Das würde ich so nicht sagen.« Tassilo’s warme Stimme durchschnitt die Stille im Klassenzimmer. »Es macht natürlich keinen Sinn, Ihnen in diesem Rahmen zu widersprechen. Aber diese Willkür, die Sie seit der ersten Stunde an den Tag gelegt haben, ist indiskutabel. Ich werde mich zusammen mit Melissa an unsere Schulleitung und gegebenenfalls an das Schulamt wenden. Auch als Schüler muss man sich nicht alles gefallen lassen.«
Herr Niewöhner war augenscheinlich fassungslos. Die ganze Klasse war mucksmäuschenstill. Der Lehrer grinste jetzt nicht mehr. Mit einem »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, machte er mit dem Unterricht weiter, als wenn nichts gewesen wäre.
Melli schaute Tassilo ungläubig an. Dieser strich ihr mit der Hand einmal kurz über den Rücken, was eine, wohl von ihm beabsichtigte, beruhigende Wirkung auf Melli haben sollte. Das klappte nicht so ganz. Ihr wurde feuerheiß und ihr Bauch fühlte sich an, als würden mehrere Jumbo-Jets Loopings üben! Andi, der Tassilo dabei beobachtet hatte, drehte sich mit versteinertem Gesicht wieder nach vorne und schluckte das was er hatte sagen wollen, wieder herunter. Was ging da zwischen Melli und Tassilo? Hatte er irgendetwas verpasst? Melli hatte den Typ doch bei jeder Gelegenheit angegiftet! Und jetzt streichelte der sie! Und sie war schon wieder rot angelaufen! Dass er Melli vor dem Niewöhner retten wollte, hatte doch bestimmt einen Grund. Der hatte etwas mit Melli! Klar! Andi bekam vom Unterricht nichts mehr mit, er war so eifersüchtig, dass er nicht mehr klar denken konnte.
Nach der Stunde, die ohne irgendwelche Boshaftigkeiten von Seiten des Lehrers zu Ende gegangen war, wandte Melli sich zu Tassilo um. »Das wäre echt nicht notwendig gewesen«, meinte sie. »Jetzt hängst du mit drin!« Tassilo lächelte sie an.
»Erstens muss dieser Psycho gestoppt werden, sonst bekommen wir das ganze Jahr keinen vernünftigen IT Unterricht, sondern handfeste Neurosen und zweitens ist es nicht fair, jemanden in so einer Situation hängen zu lassen. Ich habe mir gedacht, dass der Blödmann auf Rückzug geht, wenn ich den Mund aufmache.« Melli wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, aber Tassilo redete auch gleich weiter.
»Wir gehen gleich auf das Rektorat. Wir müssen noch heute einen Termin mit Fr. Dr. Schmidt bekommen. Vielleicht geht noch jemand mit.«
Sigrid und Nina, die die letzten Sätze gehört hatten, waren sofort mit dabei. Esther wollte dableiben, um dem nächsten Lehrer, bei dem sie die folgenden zwei Stunden hatten, notfalls zu erklären, dass die anderen später kommen würden. Andi reagierte gar nicht. Melli wiederum bekam Andi’s komisches Verhalten gar nicht mit, sondern nahm nur noch den souverän wirkenden Tassilo wahr.
Sigrid, Nina, Melli und Tassilo eilten auf das Sekretariat. Frau Lempe, eine strenge damenhafte Erscheinung in den fünfzigern, war die Perle in diesem Refugium. Immer tiptop in ein schickes Kostüm gewandet, von außen und innen, die perfekte Sekretärin für eine Schule. Sie empfing die vier Schüler kühl und herablassend.
»Bitte, was gibt es denn?«
Mein Gott, noch so ein Menschenfreund, dachte Melli bei sich. Ein bisschen freundlicher ginge doch auch? Gott sei Dank übernahm Tassilo das Sprechen. Freundlich erklärte er Frau Lempe, wer sie waren und dass sie sehr eilig einen Termin mit Frau Dr. Schmidt benötigten. »Um was geht es denn? Im Moment haben wir hier so viel um die Ohren, dass es sich schon um etwas sehr Wichtiges handeln muss!« Tassilo erklärte ihr höflich die Situation. Frau Lempe war nicht bereit, auch nur in den Terminkalender ihrer Chefin zu schauen. »Das könnt ihr zuerst einmal mit eurem Klassenlehrer besprechen. Das ist der erste Schritt. Nur wenn dieser es als notwendig erachtet, dass Frau Dr. Schmidt hinzu gezogen wird, werden wir einen Termin machen.« Tassilo wollte dagegen aufbegehren, aber Frau Lempe schnitt ihm das Wort gleich ab. »Das ist der Weg! Nach dem Gespräch mit eurem Klassenlehrer kann dieser gegebenenfalls die Sache mit Frau Dr. Schmidt erörtern. Sie können in Ihr Klassenzimmer zurück gehen!« Damit ließ sie die vier stehen. »Unglaublich«, schimpfte Nina, als sie das Sekretariat verlassen hatten. »Hat man hier eigentlich irgendwelche Rechte? Die Alte hat doch einen Vollschuss!«
Tassilo zuckte mit den Schultern.
»Die haben hier eben so eine Art Verfahrensweg und den wollen sie eingehalten haben. Statt uns aufzuregen sollten wir lieber schauen, dass wir Frau Schildknecht noch erwischen.«
Sie bewegten sich eilig zum Lehrerzimmer. Frau Schildknecht war aber nicht da, keiner konnte sagen, wo sie sich gerade aufhielt. Frustriert gingen sie wieder zu ihrem Klassenzimmer zurück.
»Wir probieren es nachher gleich wieder,« meinte Tassilo aufmunternd.
Melli nickte ihm freundlich zu, als sie in das Klassenzimmer kamen. Sie bemerkte gar nicht, wie finster Andi ihnen entgegen schaute. Dass Melli und Tassilo plötzlich so gut miteinander klar kamen, machte ihn richtig wütend. In seinem gekränkt sein, ignorierte er Melli vollständig. Die nächsten zwei Stunden hatten sie Französisch bei Herrn Hartus. Doch Melli war so in ihren Gedanken versunken, dass sie weder etwas vom Unterricht noch Andi’s abweisende Art mitbekam. In der nächsten Pause allerdings, konnte sie sein Verhalten nicht mehr übersehen. Sie drehte sich ihm zu und informierte ihn darüber, dass sie noch einmal versuchten, Frau Schildknecht zu treffen. Doch Andi ließ sie gar nicht richtig ausreden.
»Was erzählst du mir das? Du hast ja den Richtigen gefunden, der sich der Sache annimmt!«
Damit war Andi aufgestanden und weggelaufen. Melli schaute ihm stirnrunzelnd nach. Was war denn mit dem los? Tassilo, der daneben stand schüttelte den Kopf.
»Komm wir gehen noch einmal los. Der kriegt sich wieder ein.«
Nina und Sigrid standen schon da und zusammen machten sie sich auf den Weg. Aber auch dieses Mal hatten sie kein Glück. In der nächsten Stunde erfuhren sie auch warum. Frau Schildknecht hatte ein Kooperationstreffen mit Lehrern aus einer anderen Schule und war den ganzen Tag aus dem Haus. Die Mädchen waren gefrustet und ließen ihren Dampf ab, doch Tassilo beschwichtigte sie mit seiner ruhigen Art. »Wir haben am Montag die ersten beiden Stunden Deutsch, da können wir auf jeden Fall mit Frau Schildknecht reden. Ob wir deinen Arrest noch abbiegen können, hängt davon ab, wie schnell wir Frau Schildknecht davon überzeugen können, dass der Niewöhner echt daneben ist.«
Es blieb ihnen wohl nichts anderes übrig. Melli ging etwas niedergeschlagen in das Klassenzimmer zurück.
Andi blieb den restlichen Vormittag auf Distanz doch Melli ignorierte ihn mitsamt seiner schlechten Laune. So ein blödes Theater, dachte sie. Die ganze Zeit hing er mit seinen Lurchi-Freunden zusammen und hatte keine Minute Zeit für sie. Doch jetzt, wo sie ein paar Freunde gefunden hatte und mit denen herumzog, machte er auf beleidigt! Sie konnte ja heute Abend einen Überaschungsbesuch bei ihm machen. Und dann, nahm sie sich vor, würde sie mit ihm Tacheles reden. Was bildete der sich eigentlich ein?
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