Dank des Transporters, ersparten wir uns fast eine Stunde Bahnfahrt quer durch die Hamburger Innenstadt, die um diese Uhrzeit ziemlich überfüllt sein würde.
Als wir am Haus meiner Eltern ankamen, war meine Mutter gerade in ihrem üppigen Kräutergarten. Sie trug ihre stark befleckte Küchenschürze. Das konnte nur bedeuten, dass in der Küche schon etwas Leckeres auf dem Herd stand. Wie zur Bestätigung duftete es schon köstlich aus dem geöffneten Küchenfenster, als wir daran vorbeigingen, um Ma im Garten zu begrüßen.
„Evelyn! Schön dich zu sehen! Wie geht es dir?“ Cassandra war quasi von meinen Eltern adoptiert worden. Gerade in der Zeit nach dem Unfall, als Cassandra bei mir wohnte, war meine Mutter zu einer sehr wichtigen Person in ihrem Leben geworden.
„Ihr kommt genau zur richtigen Zeit. Das Essen ist gleich fertig. Ihr müsst ja ganz hungrig sein, von der vielen Arbeit. Kommt her, lasst euch drücken!“, sagte Ma, als sie aus ihrem Beet gekrochen kam. Sie trug noch an einer Hand einen Gartenhandschuh. Auf ihrer Schürze stand >Beste Mama der Welt<. Ich erinnerte mich, ihr diese mal zum Muttertag geschenkt zu haben. Ma trug in der Küche immer Schürzen. Eine Angewohnheit, die ich übernommen hatte, als ich auszog.
Viele Küsschen und Umarmungen wurden verteilt.
„Jetzt aber schnell in die Küche! Pa wird auch gleich kommen. Würdet ihr mir helfen, den Tisch zu decken?“
„Ja, Ma“, erklangen Cassandra und ich im Chor. Es war inzwischen ganz normal, dass Cassandra meine Eltern hin und wieder mit Ma und Pa ansprach. Sie gehörte für alle zur Familie.
Der große Esstisch war gerade gedenkt, als mein Vater eintrat. Er trug noch seinen schweren braunen Mantel, obwohl draußen schon so angenehme Temperaturen herrschten.
„Evelyn mein Schatz! Das duftet schon wieder wunderbar! Kinder, ihr seid ja auch hier.“ Er kam direkt auf uns zu, als er uns sah. „Na, wie läuft die Arbeit im Haus? Kommt ihr gut voran?“, fragte er gleich neugierig, während er uns begrüßte.
„Wir erzählen es gleich, wenn Ma aus der Küche kommt. Sie wird es auch interessieren, was wir heute gefunden haben.“ erklärte ich, während wir in die Küche gingen, um zu sehen, ob wir Ma helfen konnten. Die drückte uns allerdings bereits voll beladene und dampfende Schüsseln in die Hände und wir nahmen alle am Tisch Platz.
Es gab geschmorte Rinderbrust, die meiner Ma immer so zart gelang, das man kein Messer brauchte, um sie zu zerteilen. Dazu wurden Petersilienkartoffeln gereicht und gebackener Blumenkohl mit zerlassener Butter.
Eine Zeit lang hörte man nur das bedächtige Klirren von Besteck auf Porzellan.
„Kinder, nehmt euch nach, es ist noch genug da“, ermunterte Ma uns, noch mehr zu essen.
Sie machte sich immer Sorgen, dass wir nicht genug aßen. Dabei hatte sie mich gelehrt zu kochen und wusste, dass Cassandra häufig bei mir war, um sich nicht nur in der WG mit Fastfood zu ernähren.
„Danke für die Einladung zum Essen, Evelyn. Es ist wie immer hervorragend. Und genau das Richtige, bei der Arbeit die heute noch auf uns zu kommt“, leitete Cassandra die Unterhaltung über das Haus ein, als sie schon die zweite Portion auf dem Teller hatte.
„Oh ja“, fügte ich hinzu, als sie mich ansah und sich ein großes Stück Fleisch in den Mund steckte. Sie schien zu hoffen, dass ich weiter erzählen würde.
Schnell war alles über unsere Fortschritte und den Raum hinter der Mauer erzählt. Meine Eltern waren begeistert von unseren Plänen und hatten noch ein paar nützliche Vorschläge.
„Wir haben im Werkzeugschuppen bestimmt noch so ein Gerät, damit ihr die Feuchtigkeit in der Außenmauer messen könnt. Vielleicht müsst ihr wieder eine Wand davor setzen, aber nicht so weit im Raum.“ Pa hatte immer gute Einfälle. „Und um die Schubkarre müsst ihr euch auch keine Gedanken machen.“ fügte er noch hinzu.
„Ja und Fallen für die Nager haben wir sicherlich auch noch“, fiel meiner Mutter ein. „Wobei die Idee mit den Katzen auch sehr gut ist. Da hast du gleich langfristig eine Lösung.“ Sie dachte immer praktisch.
„Das wäre uns wirklich eine große Hilfe. Aber vorher helfe ich Evelyn mit dem Geschirr. Keine Widerrede!“ sagte Cassandra sehr bestimmend und stand auf. Sie wusste, dass meine Mutter sich eigentlich nicht gern helfen ließ. Aber so hatte Ma gar keine andere Wahl, als sich helfen zu lassen.
„Danke Kind, aber lege dir bitte eine Schürze an.“
Pa und ich gingen schon mal in den Geräteschuppen. Da etwas zu finden würde wahrscheinlich ziemlich lange dauern. Hier hatte sich in vielen Jahren einiges angesammelt und darüber einen Überblick zu behalten, war nicht einfach. Mein Vater und ich fanden jedoch neben dem Messgerät noch ein paar nützliche Halogenstrahler und zwei Kabeltrommeln.
Nachdem die Küche wieder aufgeräumt und im Schuppen alles zusammen gesucht war, fuhren wir wieder zum Haus zurück. Wir wollten es heute noch schaffen die ganze Mauer ein zu reißen.
Natürlich kamen wir nicht ohne die eingepackten Reste vom Essen und viele Küsse meiner Mutter fort. Sie verabschiedet sich immer, als würden wir uns für Monate nicht mehr sehen, nicht als würden wir nur am anderen Ende von Hamburg leben.
Als wir ins Wohnzimmer kamen sahen wir, dass meine provisorische Stütze nicht lange gehalten hatte. Mehr als die halbe Mauer war eingestürzt und hatte eine gewaltige graue Staubwolke aufgewirbelt.
„Wie gut, dass sie wenigstens gehalten hat, als wir noch drunter saßen“, fing Cassandra an zu lachen, was jedoch in einem Hustenanfall endete.
„Also, die Mauer hat uns einen großen Teil der Arbeit abgenommen, wie es scheint. Schade, dass sie nicht auch schon allein den Weg in den Garten gefunden hat“, bedauerte ich, jedoch nur halb gespielt.
„Ich hole uns schon mal die Schubkarre, such du doch bitte die Handschuhe heraus. Jetzt wird erst mal der Schutthaufen raus geschafft“, beschloss ich. Vorher würden wir keine anderen Arbeiten beginnen können, weil alles voller Steine und Schutt war.
Nachdem etwa die Hälfte der Steine nach draußen gebracht war, hockte sich Cassandra in den Rasen. Sie war über und über mit Staub bedeckt. Ihre langen Wimpern waren ganz grau, ebenso die dunklen Haare. Im Gesicht hatte sie Spuren, wo sie sich immer eine widerspenstige Strähne wegzuwischen versuchte. Unter all dem Grau stachen ihre lindgrünen Augen besonders gut hervor. Solch grüne Augen hatte ich bei noch keiner anderen Person gesehen. Auch nach der langen Zeit unserer Freundschaft, faszinierten sie mich immer noch. Einfach grün, ohne braune oder graue Einschlüsse. Im Gegensatz dazu kamen mir meine dunkel braunen Augen geradezu unscheinbar und langweilig vor.
Eine Weile sagten wir beide nichts und genossen die Ruhe in der Sonne. Es war sehr angenehm, dass man auch solch stille Momente mit Cassandra haben konnte. Sie war nicht darauf bedacht, immer eine Unterhaltung führen zu müssen, wie man es manchmal von Frauen kannte.
Scheinbar hatte sie dann aber doch genug von der Stille, denn plötzlich schien ihr etwas einzufallen.
„Jetzt wird es doch nichts mit meinem Kamin. Schade eigentlich“, bedauerte sie.
„Na warte erst mal ab. Vielleicht müssen wir ja wieder eine Mauer aufbauen, dann mauern wir gleich einen ein. Und wenn nicht, schauen wir uns nach einem freistehenden Kamin um. Die sind sicherlich nicht so schwer einzubauen“, versuchte ich sie aufzuheitern. Es schien zu funktionieren, denn sie lächelte wieder und schien sich es sich schon vorstellen zu können. Sie nickte.
„Machen wir uns lieber weiter an die Arbeit. Wir sollten wenigstens so viele Steine hinaus schaffen, dass wir auch den Rest der Mauer entfernen können.“ Jetzt mit neuen Ideen, war sie wieder voller Tatendrang.
Die restlichen Mauerstücke und Steine waren weg, der grobe Staub im Staubsauger verschwunden und der Raum das erste Mal in voller Größe komplett zu sehen.
Читать дальше