Für unser übliches ausgiebiges Frühstück hatten wir heute keine Zeit, also wurden es nur belegte Brote und ein Kaffee im Thermobecher für unterwegs. Wir wollten den Treppenbauer nicht warten lassen.
Heute Nachmittag konnten wir vielleicht schon auf den Boden, um zu sehen, was da alles auf uns wartete. Wir waren fest entschlossen, der Platte vorerst keine Beachtung zu schenken und uns um andere Dinge zu kümmern.
Wir trafen in Volksdorf vor den Handwerkern ein. Es war gut so, denn wir mussten die Fenster öffnen und die Terrassentür aufstoßen, da im ganzen Haus die Luft merkwürdig abgestanden schien.
Auf dem Boden lag schon wieder eine dicke Staubschicht.
„Werden wir diesen verdammten Staub jemals aus dem Haus bekommen? Es ist ja schön, dass man sieht, wo die Ratten entlang laufen, aber so langsam nervt mich das. Es scheint, als wäre der ganze Dreck von unten hier hinauf geweht.“ So ging es eine Weile, dass sie vor sich hin fluchte.
„War ja auch so, erinnerst du dich nicht?“, unterbrach ich sie in ihren Flüchen.
Ich ließ ihr ihren Moment und machte mich an die Unterlagen, die wir unten zusammen gesucht hatten. Es musste doch irgendetwas aus den Papieren hervor gehen. Wenigstens mal ein Datum, oder irgendwas.
Einen Briefumschlag fand ich, auf dem sich ein aufgebrochenes Wachssiegel befand. Wie lange benutzte man keine Siegel dieser Art mehr? Während ich so überlegte, erkannte ich das Muster, welches damals in dem heißen Wachs geprägt wurde. Es war die Windrose. Was war los mit diesem Ding, dass es überall auftauchte?
Die Briefe, die wir entdeckt hatten, waren alle ziemlich verblasst und nicht besonders gut lesbar. Bei einem konnte ich ein Datum erkennen, oder vielmehr das Jahr. Dieses Schreiben kam aus dem Jahr 1938. Soweit ich wusste, wohnte Tante Meredith seit ihrer Geburt hier. Sie ist mit 73 Jahren gestorben. Also ist sie 1940 geboren worden. Cassandra erzählte mir, dass dies die mütterliche Seite der Familie war. Die jüngere Schwester Meredith´ war demnach Cassandras Oma. Viel hatte ich bisher nicht über die Familiengeschichte gehört, da Cassandra auch nicht viel davon wusste. Aber so wie es aussah, würde sie sich mit dem Thema auseinander setzen müssen.
Irgendetwas musste ihre Familie ja mit dieser Windrose zu tun haben.
Ich war so in die Briefe und dem Nachrechnen der Daten vertieft gewesen, dass ich gar nicht bemerkte, dass oben die Arbeiten schon im vollen Gange waren.
Cassandra hielt mir eine Tasse Kaffee vors Gesicht und sah mich fragend an.
„Oder was meinst du?“, fragte sie mich noch mal und zog die rechte Braue hoch.
„Entschuldige, ich habe nicht bemerkt, dass du mit mir geredet hast. Würdest du es bitte wiederholen?“
„Ich habe dich nur gefragt, ob wir uns heute Mittag etwas zum Essen hier her liefern lassen wollen? Ich weiß nicht, wann die da oben fertig sind und ich würde sie ungern mit dem Haus und dem Ding unter dem Wohnzimmer allein lassen“, erklärte sie mir nochmal nachsichtig.
„Ja klar, das ist eine gute Idee. Ich habe übrigens etwas entdeckt, das aus der Zeit stammen muss, kurz bevor deine Großtante Meredith geboren wurde. Zwei Jahre zuvor, um genau zu sein.“
„Halt stopp, das muss ja irgendwann um 1940 gewesen sein!“
„Nicht ganz, in dem Jahr ist Meredith geboren. Der Brief kommt aus dem Jahr 1938.“ Jetzt erwiderte sie nichts mehr. Ich sah ihr an, dass sie nachdachte. Sie tippte sich wie immer dabei mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze.
„Du meinst also, dass meine Familie schon so lange da mit drinsteckt? Das meine Familie tatsächlich mit der Windrose, dem blutenden Fußboden und alle dem was zu tun hat? Denn soweit ich weiß, lebten meine Vorfahren seit etwa Mitte der 20er Jahre hier.“
„Ja, das denke ich. Es sei denn, es ist jemandem gelungen, unentdeckt in den Raum hinab zu steigen, während deine Familie schon hier lebte. Aber wie wahrscheinlich ist das?“, fragte ich sie.
„Nun ja, ich würde sagen, wir müssen dringend auf den Boden. Ich bin mir sicher, dass wir dort die eine oder andere Antwort bekommen werden. Konntest du sonst noch etwas in den Briefen entdecken?“
„Nein, selbst das Datum war nur schwer zu entziffern. Aber schau mal hier, diesen Umschlag entdeckte ich noch zwischen allem. Es hat ein Wachsiegel, in dem wie auf allem eine Windrose geprägt ist. Was auch immer wir herausfinden werden, es wird mit dieser verdammten Rose und den vier Himmelsrichtungen zusammen hängen.“
„Ben, mir ist das alles nicht geheuer“, flüsterte Cassandra.
„Mach dir keine Sorgen, meine Kleine. Wir werden schon herausfinden, was los ist“, versuchte ich nicht nur ihr Mut zu machen. Ich hatte keinen Schimmer, was auf uns zukam.
Die zwei Treppenbauer waren sehr nett und wir bestellten alle zusammen was vom Lieferdienst um die Ecke. Der hatte im Grunde für jeden Geschmack etwas.
Die Arbeiten an der Treppe waren fast abgeschlossen, und nun unterhielten wir uns noch mit den Beiden, wie wir am besten den Boden wieder Instand setzen konnten. Sie hatten gute Tipps, wie man das Parkett mit Schienen richtig einfassen konnte, um die Luke einarbeiten zu können. Wir hatten ihnen nur erzählt, dass wir ein kleines Kellergewölbe unter dem Haus gefunden hatten.
Jedoch waren sie verwundert, dass wir dieses Haus renovierten und nicht abrissen. Für sie war es einfach nur ein altes Haus. Aber sie wussten selbstverständlich nichts von den kleinen Geheimnissen des Hauses. Ich hatte das Gefühl, dass wir nicht mal selbst alle kannten.
Nach dem Essen machten sich alle wieder an die Arbeit. Cassandra und ich machten uns dran, in der Küche die ersten Schränke auf zu bauen, und die Arbeitsplatte einzupassen. Es war im Moment der einzige Raum, in dem wir arbeiten konnten, ohne das Gefühl zu haben, dass wir etwas aufdeckten, was keiner zu Gesicht bekommen sollte.
Die Falltreppe war eingebaut, die Handwerker verabschiedet und die Küche zur Hälfte aufgebaut. Ein guter Schnitt für diesen Tag.
Nachdem alles ein wenig aufgeräumt war, gingen Cassandra und ich gemeinsam, ein bisschen aufgeregt, nach oben und ließen die neue Treppe hinunter. Die beiden Arbeiter hatten gute Arbeit geleistet.
Was uns oben erwartete übertraf alle Vorstellungen. An den Wänden waren bis an die Decke Kartons aufgestapelt worden. An den Schrägen der Decke waren überall die unterschiedlichsten Kisten abgestellt worden. Selbst im Gebälk hatte man Kisten untergebracht.
„Oh nein, es wird Jahre dauern, das alles durch zu sehen!“, stöhnte Cassandra neben mir, als sie einen ersten Blick über den Dachboden schweifen ließ.
„Naja, schau mal“, sagte ich und zeigte auf einen Karton in der Nähe. „Es hat sich jemand die Mühe gemacht, die Kartons zu beschriften. So können wir die mit der Aufschrift >Bettwäsche< oder >Geschirr< auslassen. Das scheinen einige zu sein. Aber es könnten auch noch praktische Dinge für deinen Haushalt drin sein“, versuchte ich sie aufzuheitern. Sie wusste was ich meinte.
Wenn sie in der WG auszog, würde sie das erste Mal allein wohnen. Das bedeutete, dass sie sich komplett neu einrichten müsste. Was einiges war.
„Die Idee ist gut, aber bitte lass uns das machen, wenn wir endlich eine Antwort auf die vielen Fragen gefunden haben. Falls wir nichts finden, machen wir die Luke gar nicht erst wieder auf, sondern machen sie gleich einfach dicht“, bat Cassandra.
„Einverstanden, Chefin!“
„Ben“, sie stupste mich an, während sie das sagte. „Du hast einen Schaden!“ Wir lachten und machten uns jeder an eine Kiste, von der wir hofften, dass sie die Informationen hatten. Wieder wollten wir alles, was eventuell die Windrose trug, in einer gesonderten Box sammeln und unten dann in Ruhe untersuchen.
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