1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 „Bei uns auch nicht … und das ist auch nicht verwunderlich. Schließlich wollten ihre Eltern nicht, dass sie gefunden wird.“
Gregor schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.
„Natürlich! Deshalb habe ich ihre magische Aura nie gespürt. Arawin und Celia haben sie hinter einem Tarnschild verborgen.“
Magische Aura? Tarnschild? Allmählich rauchte Balthasar der Kopf von all dem wirren Zeug, das diese Spinner erzählten.
„Wie auch immer“, sagte er schnell. „Das Wesentliche ist doch: Ihr habt jetzt, was ihr wolltet. Geht, nehmt eure Königstochter mit, werft meinetwegen eine Münze um sie.“
Gregor blickte verwundert auf. „Du meinst, du würdest sie widerstandslos aufgeben?“
Balthasar seufzte melodramatisch. „Schweren Herzens … aber wenn sie eine Art … Prinzessin ist, würde ich ihrem Glück doch niemals im Wege stehen. Wenn ihr wollt, könnt ihr sie gleich mitnehmen.“
„Ja, Greg, befrei mich, und dann werfen wir eine Münze“, begeisterte sich das Ei. „Komm schon, wie in den guten alten Zeiten.“
„Ich erinnere dich nur ungern daran, aber es ist keine Stunde her, da wolltest du mich töten“, knurrte der Hauptmann. „Das hat die guten alten Zeiten ein für alle Mal beendet! Außerdem können wir das nicht machen.“
„Was nicht machen?“ Balthasar hatte schon wieder eine dieser Vorahnungen …
„Sie unvorbereitet aus ihrer gewohnten Umgebung herausreißen. Ich habe mir die Sache überlegt: Ich werde mit meinem Vater, dem General, sprechen, und ihn bitten, im Palast alles für Kadences Ankunft vorbereiten zu lassen. Aber hinbringen werde ich sie erst, nachdem ich sie schonend auf ihr neues Leben vorbereitet habe. Damit wir auch ganz sicher sein können, dass sie nicht … außer Kontrolle gerät.“
Balthasar wagte kaum, zu fragen: „Und was bedeutet das für mich?“
„Dass ich bei dir einziehen werde, was sonst? Und Tassud auch, aber der nimmt ja nicht viel Platz weg.“
Während Balthasar das Gefühl überkam, in Ohnmacht zu fallen, schrie das Ei auf: „Was?“
„Aber … aber … Sie ist doch die Tochter eures großen weisen Weißen! Der möchte doch seine Tochter bestimmt so schnell wie möglich wiedersehen!“
„Ich kann hier nicht bleiben! Unmöglich!“, kreischte das Ei. „Lass mich mit Esther reden, Gregor! Bitte! Wir können uns bestimmt irgendwie einigen.“
„Arawin ist seit zwanzig Jahren verschollen, Gundelstein. Außerdem ist Kadences Herkunft ein weiterer Grund, nichts zu überstürzen … überlegt doch mal: Kadence ist die Tochter zweier der größten Magier unserer Geschichte. Sie ist vermutlich hundertmal stärker als wir drei zusammen … wobei ich immer noch nicht weiß, was du eigentlich bist, alter Mann.“
Gregor blickte Balthasar erwartungsvoll an.
„Ja, was bist du eigentlich?“, wollte nun auch das Ei wissen.
Balthasar fühlte sich in die Enge getrieben. Er spürte sie förmlich auf sich zurollen: Eine gewaltige Lawine schwerer Prüfungen, der er nicht mehr ausweichen konnte. Vielleicht verschaffte es ihm ja wenigstens ein bisschen Respekt, wenn er sich offenbarte? Schicksalsergeben zog er die Oberlippe hoch.
„Was ist denn? Was macht er?“
„Er zeigt mir seine Reißzähne“, erklärte Gregor dem Ei. „Er ist ein Vampir.“
Er sagte es sachlich, doch seine Schultern zuckten und er grunzte wie ein Ferkel bei der Fütterung. Frecher Bengel!
„Die gibt es noch?“, staunte das Ei. „Ich dachte, die wären seit der großen Vampirverfolgung vor dreihundert Jahren ausgestorben?“
„Offenbar nicht in Technika … eines sage ich dir, mein Freund, gebissen wird hier nicht, vor allem nicht die Prinzessin.“ Wieder piekte der Hauptmann Balthasar in die Brust – eine äußerst nervtötende Geste.
„Ihr Blut ist stark mit Magie geladen. Wenn du es zu dir nimmst, verwandelst du dich womöglich noch in eine Fledermaus in Godzilla-Format, und wir wollen doch kein Aufsehen erregen.“
Balthasar presste beleidigt die Lippen zusammen.
„Ich habe nicht vor, irgendjemanden zu beißen, junger Mann. Ich bin ein zivilisierter Vegetarier und kein Barbar!“
Mein rechter oberer Fangzahn wackelt seit 1776 und ich komme aus dem Rollstuhl sowieso nicht an Hälse heran , wäre die ehrlichere Antwort gewesen. Doch was ging das diese Strolche an?
„Wenn ihr es unbedingt wissen müsst: Ich ernähre mich von Rotkohl“, stellte er klar. „Es dämpft den Hunger, und durch den dauerhaften Blutverzicht bleibt meine Haut lichtunempfindlich.“ Dass es ihn außerdem aufblähte wie einen Jahrmarktballon, verschwieg er weise – was leider nichts nützte.
„Daher also der Gestank!“, erhellte sich Gregors Gesicht. „Welcher Gestank?“, fragte Tassud.
„Genug diskutiert!“, fauchte Balthasar. „Ihr wollt euch mir aufdrängen, oder nicht? Meinetwegen, wenn es nicht anders geht. Aber ihr müsst mir versprechen, dass ihr es kurz macht, hinter euch aufräumt und niemals jemandem verratet, wer ich bin, was ich bin und wo ich lebe. Ist das ein Angebot?“
Er streckte Gregor die Hand entgegen. Dieser schlug ohne zu zögern ein. „So machen wir’s. Aber wenn du gestattest, würde ich dir anstelle des Kohls gerne ein anderes Blutersatzgemüse besorgen. Hast du es zum Beispiel schon mal mit roter Bete versucht? Oder, ganz klassisch, mit Tomatensaft?“
Ein kühler Wind strich über Kadences Wange und machte ihr eine Gänsehaut. Hatte sie das Fenster offengelassen? Benommen stemmte sie sich gegen die Unterlage, bis sie aufrecht saß, streckte sich und rieb ihre Augen.
Dann sah sie sich um. Sie hockte auf einem zerwühlten Bett in einem kleinen, weiß gestrichenen Zimmer. Gegenüber befand sich ein gekipptes Fenster, vor dem sich weiße Spitzenvorhänge bauschten. Dahinter bot sich Kadence offene Sicht auf den strahlend blauen Himmel. So was , dachte sie. Habe ich etwa verschlafen?
Da entdeckte sie die zerbeulten Umzugskisten neben dem Bett.
Oh nein! Ich habe noch gar nicht aufgeräumt!
Geschwind sprang sie aus dem Bett, um sich anzuziehen, und stellte fest, dass sie bereits angezogen war. Moment mal … wie war sie eigentlich hierhergekommen? Sie erinnerte sich, dass sie vergangene Nacht gegen halb zehn Bert mit dem Fahrrad herbringen wollte. Das musste sie auch getan haben, denn Bert lag zu einer Kugel zusammengerollt auf dem Fußende ihrer Matratze und schlief friedlich. Seltsam …
Kadence kletterte aus dem Bett und verließ das Zimmer, um nach Herrn von Gundelstein zu sehen. Als sie in den Flur trat, schämte sie sich: Was für ein Durcheinander sie und Millie hinterlassen hatten!
Sie fand den alten Herrn in seinem Wohnzimmer, wo er, wie üblich, vor dem Fenster saß und grüblerisch auf die Straße hinaussah. Kadence hatte ihn noch nie außerhalb seines Rollstuhls gesehen, aber bisher hatte sie die Wohnung auch immer um spätestens sieben Uhr abends verlassen.
„Guten Morgen“, grüßte sie schüchtern. Herr von Gundelstein fuhr ein Stück rückwärts und wendete seinen Rollstuhl, sodass er ihr gegenübersaß.
„Guten Morgen, Kadence. Haben Sie gut geschlafen?“
Irgendetwas in seinem Blick irritierte Kadence – eine Mischung aus Interesse und Misstrauen, die sie von ihm nicht kannte.
„Ja, danke, viel zu gut. Bitte entschuldigen Sie die Unordnung, ich werde hier gleich aufräumen. Aber zuerst mache ich uns Frühstück … Wie spät ist es denn?“
„Halb zwölf, aber machen Sie nur.“
„Was?“
Entsetzt stürmte Kadence ins Bad, wobei sie über einen Nähkasten stolperte, der mitten im Flur lag. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ihren ganzen Haushalt hierher zu schleppen? Wo sollte sie all das Zeug hintun? Sie richtete mal wieder mehr Chaos an, als dass sie eine Hilfe war … aber nicht mehr lange.
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