„Das ist eine ganz schön komische Situation für mich …“, murmelte Kadence fahrig, während sie immer noch an Gregors Kleid herumklopfte und -zupfte. „Eigentlich sollte ich dich doch beschützen und nicht umgekehrt …“ Sie schenkte Gregor ein sanftes Lächeln und streichelte seine Wange. „Danke …“
Gregor fühlte, wie er schon wieder bis zu den Haarwurzeln rot anlief. Ein weiterer Punkt auf seiner Nachteile-ein-kleines-Mädchen-zu-sein- Liste.
„Da war ein Stein“, murmelte er. „Ich bin einfach gestolpert.“
Wenn jemand Balthasar gefragt hätte, was er am wenigsten an sich mochte, hätte er die Antwort sofort gewusst: Es war seine Neugierde – dieses schreckliche, juckende Gefühl, das sein unersättlicher Verstand heraufbeschwor, um mit Informationen gefüttert zu werden. Die Vernunft mochte protestieren, unterlag jedoch meist kläglich und überließ Balthasar den blödesten Ideen. Selbst sein Vampirismus war ein Resultat davon:
Anno 412 sandte Balthasars damals noch etwas unkultivierter Verstand die Neugierde aus, um herauszufinden, wie wohl die nackten Schenkel der blutjungen Nachbarstochter aussahen. Die verflixte Neugierde trieb den unschuldigen, damals 78-jährigen Balthasar auf das Dach einer Scheune, wo die schamlose Neugierde die begehrte Information zu erhalten hoffte.
Doch statt Fräulein Sieglinde durch das Fenster zu erblicken, rutschte Balthasar vom Dach, landete hart auf dem Hintern und verletzte sich die Wirbelsäule. So lag er in der darauffolgenden Nacht bewegungsunfähig im Bett, als plötzlich ein besoffener Vampir durch sein Fenster flatterte und ihm mir nichts, dir nichts in seinen rechten Gichtzeh biss.
Die Angelegenheit stellte sich rasch als Versehen heraus: Auch der Vampir hatte das Zimmer des Fräulein Sieglinde angepeilt. Er bedauerte seinen Irrtum zutiefst (er spuckte, als hätte er an einer Kröte geleckt), doch es war zu spät: Balthasar verlor das Bewusstsein, und als er wieder aufwachte, hatte er vier stummelige Reißzähne – nach fünfundzwanzigjähriger Zahnlosigkeit!
Von dieser winzigen Verbesserung abgesehen hatte die Verwandlung nur einen Effekt, nämlich Balthasars alten, verkrüppelten Körper für die Ewigkeit zu konservieren. Nie wieder würde er auf Dächer klettern können. Nie wieder würde er etwas spüren – bis auf diesen abscheulichen Blutdurst. Es schüttelte Balthasar immer noch, wenn er an seine ersten Wochen als “Jungvampir“ dachte. Erst, als er die lindernde Wirkung des Rotkohls entdeckte, wurde seine Lage erträglicher – mehr aber auch nicht.
Die erniedrigende Hilflosigkeit der darauffolgenden Jahrhunderte, das Gefühl, den Menschen lästig zu sein, die quälende Langeweile, die Angst, entlarvt zu werden, das endlose Nomadenleben voller Tode, die er nicht gestorben war … all dies hatte Balthasar einzig und allein seiner Neugierde zu verdanken.
Und sie war noch lange nicht fertig mit ihm …
Es war exakt zwei Uhr sechsunddreißig, als er seine lange Nase um die Ecke seiner Schlafzimmertür steckte und den Blick misstrauisch durch den Flur schweifen ließ: Alles war dunkel und ruhig – abgesehen vom Schnarchen des Katers, der als rundes, graues Etwas auf dem untersten Plüschplateau des Kratzbaumes seiner Lieblingsbeschäftigung nachging. Balthasar mochte eigentlich keine Haustiere, aber Bert mochte er. Unter anderem auch, weil der Kater Hauptmann Gregor nicht mochte, nicht einmal in seiner lächerlichen, kulleräugigen Greta-Gestalt. Das Tier musste eine ungeheuer gute Menschenkenntnis haben – eine Eigenschaft, die es mit Balthasar teilte.
Balthasar hatte Gregor von Anfang an misstraut. Obwohl er ihn bei sich wohnen ließ, hielt er ihn für einen hitzköpfigen, arroganten, unverschämten Flegel, der plante, Kadence zu manipulieren und für Militärzwecke zu missbrauchen. Nicht, dass es Balthasar sonderlich interessiert hätte, was aus Kadence wurde. Aber was Gregor tat, verletzte sein Anstandsgefühl.
Sicher, Balthasar hatte in seinem langen Leben unzählige Frauen erobert, jedoch nie unter Vortäuschung falscher Tatsachen. Selbst als er – noch vor seiner Rotkohlära – versuchte, die Hälse junger Mägde zu erreichen, hatte er die Mädchen nie mit Liebesschwüren oder glühenden Blicken eingelullt. Er hatte gewartet, bis sie ihm den Rücken zukehrten, und sie dann mit einem Knüppel niedergestreckt. Schonend und respektvoll, ohne Heuchelei und verletzte Gefühle.
Nun war Kadence zwar eine Plage biblischen Ausmaßes, die nichts als Chaos verursachte. Aber sie wohnte unter Balthasars Dach, und so fühlte er sich für sie verantwortlich. Viel konnte er in seiner Lage nicht tun. Doch er konnte dafür sorgen, dass ihm nichts Wesentliches entging.
Vorsichtig schob er sich in den Flur, vorbei an der Wohnzimmertür, hinter der Gregor alias Greta auf einem aufklappbaren Gästebett schlief – eines der vielen nutzlosen Dinge, die Kadence hergebracht hatte. Sich selbst hatte das Mädchen im kleinsten Raum der Wohnung einquartiert, dem Zimmerchen zwischen Eingangstür und Küche. Balthasar hatte diesen Raum immer als Abstellkammer genutzt. Da er aber keine Hemmungen hatte, alte Sachen wegzuwerfen – was in seiner Lage von großem Vorteil war – und auch nie kopflos einkaufte, war der Raum bis auf ein altes Bett, einen schmalen Eichenschrank und ein paar Kisten mit alten Büchern praktisch leer gewesen. Früher einmal. Balthasar betrachtete die weiß lackierte Tür mit einem tiefen Seufzer. Dann wandte er sich ab und rollte zur Eingangstür.
„Hey!“
Balthasar zuckte zusammen. War er etwa schon aufgeflogen?
„Pssst, Hey! Hier unten!“
Zu seiner Erleichterung erblickte er die schwarzen Umrisse des Plüschbären, der zu seinen Füßen neben dem Eingang saß.
„Wo willst du hin?“
Balthasar knurrte. „Habe ich jetzt schon Wachposten vor meiner Tür? Darf ich meine eigene Wohnung nicht verlassen?“
„Kommt drauf an. Wo willst du hin?“
„Das sage ich dir nicht. Es ist geheim.“
„Gehst du auf Beutezug?“
Balthasar beschloss, auf derartige Frechheiten nicht einzugehen.
„Nimm mich mit!“, flehte der Bär. „Mir ist so langweilig.“
„Dann schlaf doch wie jeder normale … äh … Teddy um diese Zeit.“
Tassud schnaubte. „Sehr witzig. Hast du schon mal versucht, ohne Körper zu schlafen?“
Balthasar öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Das hatte er in der Tat noch nicht.
„Ich muss hinaus, ich habe etwas zu erledigen“, erklärte er barsch.
„Nimm mich mit!“, fiepte der Bär.
„Nein, nein und nochmals nein!“
„Nimm mich mit oder ich schreie!“
Ein weicher Nachtwind streichelte Balthasars Wangen, als er und der Bär das kleine Backsteinhaus verließen und zwischen blühenden Magnolien durch den schmalen Vorgarten rollten.
„Was siehst du?“, wollte Tassud wissen.
Es muss wirklich unangenehm sein, die ganze Zeit in einem schwarzen Ei herumzugeistern , überlegte Balthasar. Noch viel schlimmer, als ewig an einen Rollstuhl gefesselt zu sein.
„Wir fahren gerade auf den Bürgersteig hinaus“, erklärte er, „und jetzt biegen wir nach links in Richtung Waldstadion ab.“
Abgesehen von den zarten, schwach belaubten Lindenästen, die im Wind hin und her wippten, rührte sich nichts auf der Straße. Die hohen Laternen beleuchteten mit ihrem bleichen Schein wie üblich sich selbst und sonst nichts.
„Eine richtige Nacht-und-Nebelaktion!“, freute sich Tassud. „Ist das nicht zufällig ein Umweg zum Bahnhof? Ich müsste nämlich dringend mal einen Abstecher nach Hamburg machen …“
„Was willst du denn dort?“
„Hm, nichts Wichtiges. Nur dafür sorgen, dass mein Körper nicht verhungert und so.“
Das war eine interessante Information, doch Balthasar war zu abgelenkt, um weiter über sie nachzudenken. Er spähte in die Ferne. Ja, da hinten an der Kreuzung war es gewesen. Vielleicht gab es ja noch Spuren auf dem Asphalt? Oder irgendetwas anderes, das ihm half, sich besser zu erinnern …
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