“Igittigitt”, schrie er, “was für eine Monsterfratze!”
Paul stand wie elektrisiert und stierte in die grell geschminkte Erscheinung im Fixpunkt der Taschenlampe; er glaubte an einen Streich seiner Augen. Franziskas Gesicht hatte eine ihm kribbelnde Gänsehaut erzeugende Ähnlichkeit mit jenem fauchenden Ungeheuer aus seinem nächtlichen Traum: Die Augenränder grün und blau, die Wangen knallgelb und das Kinn feuerrot. Und aus dem leicht geöffneten Mund lief schaumigweißer Sabber die Maske hinunter und tropfte sacht ins feuchte Gras.
Die große Überraschung
Während Paul seine Schwester anstarrte, als wäre sie geradewegs vom nachtschwarzen Himmel herunter auf die Erde geplumpst, quälte sich ein paar Meter entfernt der riesenhafte Verfolger laut fluchend aus dem Zeltchaos - es war der eigene Vater! Schnaubend vor Wut stapfte er über den Rasen, den halb um den Baum geschlungenen, vermeintlichen Eindringling in die heimische Gartenlandschaft starr im Visier. Gerade als er das noch immer wimmernde Geschöpf am Kragen packen und an sich ran ziehen wollte, erkannte er die eigene Tochter und deren Maskerade im fahlen Licht der Taschenlampe.
Die Bewegung stoppte abrupt, und die Zornesader verlor rasch an Schwellung. Stattdessen dämmerte unter den nassen Haaren die nahe liegende Schlussfolgerung und bahnte sich ihren Weg zu den milder gestimmten Lippen. “Du wolltest mit dieser Aufmachung wohl deinen Bruder und dessen Kumpan erschrecken, und ich dachte, Einbrecher wären am Werke, als es so gewaltig schepperte“, keuchte der Vater und rang sich ein gequältes Lächeln ab.
“Ich bin über das verdammte Seil gestolpert. Wer hat denn dieses Teufelsding bloß gespannt und die blöden Büchsen drangehängt?”, jammerte Franziska in einer Mischung aus Leid und Empörung.
“Das waren wir”, wisperte eine Stimme hinter einem der dickeren Obstbäume. Und dann trat Seppi wie ein in des Gefechtes Gewitter die schützende Deckung suchender Soldat aus der Dunkelheit heraus in den Strahl der Taschenlampe, die sich in Pauls Hand wie auf Kommando um 180 Grad gewendet hatte, und schlurfte gesenkten Hauptes auf die drei anderen Nachtschwärmer zu.
In Pauls Gehirnkasten ratterte es schon los, kaum dass er den Freund gesichtet hatte. In Sekundenschnelle ließ er die vergangenen Minuten vor seinem geistigen Auge vorbeieilen und kam dank ausgeprägter Kombinationsgabe zu einem wenig Zweifel duldenden Schluss: ‘Seppi war es, der mich von außerhalb des Zeltes geräuschvoll geweckt hat, und später, als ich aus dem Zeltschlitz lugte, hat er mit der zweiten Taschenlampe kurz aufgeblinkt. Aber mit welcher Absicht?’
Weiter kam der Junge nicht in seinem Nachsinnen. Denn als Seppi gerade noch zwei Schritte entfernt war und der Schein der Lampe nicht mehr den ganzen Körper einfing, sondern sich allein im Gesicht des Knaben bündelte, da folgte für Paul die zweite bildhafte Überraschung des Abends, und sie wurde mit einem schallenden Gelächter quittiert. Stirn, Wangen und Nase des Freundes waren kohlrabenschwarz gefärbt, und die Augen schimmerten wie zwei ferne Lichter im Dunkeln.
Paul spürte des Lachens befreiende Wirkung auf der angespannten Brust und meinte schließlich, noch immer unter heftigem Glucksen: “Meine clevere Schwester schminkt sich zu einem Monster, um uns Angst einzujagen, und mein bester Freund schmiert sich Schuhcreme übers Gesicht, damit ihn die Albaner bei Nacht ja nicht erspähen können.”
Franziska fauchte wie eine Wildkatze, ließ aber kein verstehbares Wörtchen über die gepressten Lippen kommen. Ihr schöner Plan war kläglich zwischen alten Cola-Dosen zerscheppert.
“Albaner?“, fragte der Vater erstaunt. “Habt ihr etwa Besuch erwartet heute Nacht?“
Pauls Miene gefror zu Eis; er und Seppi schwiegen betreten.
“Na, raus mit der Sprache.” Dem Vater war die abrupte Unterkühlung seines Filius nicht entgangene, und so bohrte er mit strenger Stimme ohne viel Feingefühl tiefer in das sorgsam gehütete Geheimnis der beiden Jungs.
Paul trat von einem Bein auf das andere und erzählte schließlich steif und stockend die Story vom Zettel am Lenker und dem angekündigten Überfall. Franziska stand fassungslos dabei und schien die Kontrolle über ihre Mundmuskeln verloren zu haben, denn die Kinnlade sackte tiefer und tiefer. Der Vater nickte nur, ließ die eigene Überraschung an der erstarrten Miene abprallen und kombinierte scharf und zügig wie Sherlock Holmes: “Die Albaner haben den Zettel nicht geschrieben, sonst wären sie ja gekommen, und Franziska war es auch nicht, weil sie euch, wie wir erleben mussten, überraschen wollte. Also kann es nur einer gewesen sein, nämlich der, der von dem Zettel wusste und dem klar war, dass er heute Nacht dabei sein würde.“
Für einen Augenblick herrschte gespanntes Schweigen im kleinen Kreis der lichtscheuen Gartenaktivisten. Dann hob Paul wie von Geisterhand bewegt seinen Arm mit der Taschenlampe im Anschlag höher und höher und leuchtete schließlich seinem Freund mitten ins Gesicht, geradeso wie ein Polizist es hält, wenn er den Dieb auf frischer Tat ertappt hat.
“Ich, äh, ich, äh, ich wollte... ich wollte...” Seppi brachte keinen klaren Satz heraus und drehte mit nervösem Blick verlegen an seinen klammen Fingern.
“Es sollte alles nur ein Spaß sein”, sagte er schließlich kleinlaut. “Ich habe mich aus dem Zelt geschlichen“, kam es bleiern über die schmalen Lippen, „von außen mit den Fäusten gegen die Plane gehämmert und ‘Uuuiieeh’, “Uuuiieeh’ gerufen.“ Seppi hielt inne und sah seinem Freund verlegen in die Augen. „Wenn du dann raus gekommen wärst, wovon ich ausgegangen bin, dann, dann…“ Abermals kam das Sprechen ins Stocken. …“dann hätte ich die albanische Gefahr für erledigt erklärt.“ Seppi stoppte für drei, vier Atemzüge, den Kopf beinahe bis aufs Brustbein gesenkt, dann fuhr er fort, im Ton noch eine Nuance leiser als zuvor: „Ich wollte doch bloß ein bisschen den Helden spielen, weil ich ja eigentlich ein Angsthase bin. Doch dann kam deine Schwester über die Fangseile gestolpert und hat mich fürchterlich erschreckt...”
Jetzt mussten alle lachen, selbst Franziska, die eine dicke Beule unter ihren kastanienbraunen Haaren spürte und mit der Hand immer wieder deren Ausmaße ertastete, allerdings mit ängstlich gespitzten Fingern, als könnte die Schwellung unter zu großem Druck aufbrechen wie ein rohes Ei.
In diesem Moment öffnete der Himmel seine Schleusen. “Abmarsch ins Haus”, befahl der Vater, “das Zelt ist platt wie ein Bierdeckel, und ich habe keine Lust, es im Dunkeln und bei diesem Sauwetter wieder aufzurichten.”
Vaters Botschaft an den Sohn
Das jugendliche Trio eilte auf flinken Beinen zur Eingangstür, denn inzwischen goss es wie aus Kübeln, und der Vater stapfte schweren Schrittes hinterher. Als die Kinder auf leisen Sohlen durch den dunklen ovalen Hausflur in Richtung Wohnzimmer geschlichen kamen, ging das Licht an und die Mutter stand mit blanken Beinen und struppigen Haaren im Nachthemd auf der obersten Treppenstufe, die von der Diele zu den Schlafzimmern führte.
“Was ist denn hier los?” Die Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. “Euer Vater ist aus seinem Bett verschwunden, und ihr schleicht durchs Haus, als hättet ihr etwas ausgefressen.”
Die beiden Jungs und das Mädchen an ihrer Seite blieben stehen mit gesenkten Häuptern wie ertappte Sünder. Keiner sprach ein Wort. Da kam der Vater zur Tür herein.
“Wir haben eine kleine Nachtwanderung gemacht”, log er ohne Wimpernzucken und als sei für ihn und seine beiden Racker nichts selbstverständlicher auf der Welt als ein Spaziergang zu später Stunde. Die Kinder sahen ihren Vater an wie einen Außerirdischen, der die Erde zu seiner Heimat erklärt hat.
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