Wie Diokletian wollten die Herrscher einen Regierungssitz ihr Eigen nennen, der gleichermaßen wehrhaft wie repräsentativ war. Vor allem Birga wollte damit das eigene Volk und alle Auswärtigen von ihrer Pracht überzeugen. Der Tempelbau sollte der Regierung dabei den Anschein geben, von höheren Mächten legitimiert zu sein – auch wenn das Thema Religion bis dahin auf der Insel noch keine Rolle spielte. Der gläserne Parlamentssaal inmitten der starken Mauern stand dagegen für die Transparenz, mit der ein paar wenige, wundervolle Menschen für die anderen Bewohner Entscheidungen trafen. Doch diesen Teil des Komplexes erreichten Besucher erst zuletzt: Nachdem sie durch das goldene Eingangstor Porta Aurea eingetreten waren, liefen sie zuerst entlang der beiden Gebäude mit den Innenhöfen. Zum Gang hin waren die Mauern von Säulen gesäumt. Was der normale Besucher nicht sah: Einer der Bauten war innen eher schlicht gehalten und bot Platz, um einen kleinen Militärverband zu beherbergen – so konnte der Regierungssitz schnell zur Festung ausgebaut werden. Ein Detail, das einmal mehr das krude Misstrauen der Herrscher zeigte und das die Bevölkerung einmal mehr nicht erkannte. Der zweite Quadrat-Bau war wesentlich luxuriöser und beinhaltete drei voneinander getrennte Wohneinheiten für die Herrscher. Nach außen sahen diese gleich aus – was der Machtverteilung zu je einem Drittel gerecht werden sollte.
All diese Maßnahmen – Bau neuer Gebäude und des Regierungssitzes, Zuzug neuer Bewohner und Einführung eines Behördensystems – wurden in einem staatlichen Programm gebündelt: Dem "großen Sprung nach vorn".
Kapitel II – Kamikowo Halbinsel – Gute Zeiten, große Politik
"Der Motor der Konjunktur brummt wieder etwas lauter. Wir müssen nur weiterhin die Drehzahl erhöhen", sagte Ivan. Für einen besonderen Anlass hatte er sich diese Metapher einfallen lassen. Schließlich kam die Regierung das erste Mal im neuen Parlamentsgebäude zusammen – öffentlich – und er durfte die Eröffnungsrede halten. Das war ein weiterer Schritt hin zur Normalität auf der Insel und machte allen Bewohnern klar, dass die Zeiten von Landkriegen und Militarismus endgültig Geschichte waren. Sitzungen der Regierung waren nun nicht mehr geheim.
Nachdem er die Sitzungsordnung verlesen und die Parlamentsmitglieder sich damit einverstanden erklärt hatten, sprach Ivan über die wirtschaftliche Entwicklung der Insel. Er hob das Erreichte hervor, kritisierte jedoch milde den niedrigen technologischen Stand der Gesellschaft: "Hier, geehrte Kollegen, gibt es noch viel zu tun. Wir befinden uns zwar schon lange in einer konjunkturell luxuriösen Situation, haben aber erst zwei moderne Behördengebäude sowie ein mittelprächtiges Wohnhaus gebaut und diese durch gute Straßen und eine Brücke verbunden. Ein drittes Gebäude jenseits des Living River ist zurzeit im Entstehen begriffen. Es wird das Einwohnermeldeamt beherbergen. Bisher ist dieses mit einer Teilzeitkraft im Gebäude des Finanzamts untergebracht. Verstehen Sie mich nicht falsch. Wir haben in der Geschichte einzigartiges geleistet. Doch wir dürfen uns jetzt nicht damit zufrieden geben – vor allem weil wir unsere Entwicklung in Sachen Innovation und Modernität gerade erst begonnen haben."
Er blickte in die Reihen der Zuhörer, die im von Glaswänden und dicken Stahlpfeilern begrenzten Raum saßen. Sie waren recht übersichtlich. Neben Birga und Mark auf den Parlamentssitzen war ein Zuhörer da: Manuel Arnan, einer der bisher vier neu Zugezogenen.
Dieser Fakt ärgerte die Machthaber ein wenig. Eigentlich sollte die Bevölkerung mit ihrer Arbeit so ausgelastet sein, dass ihr Interesse an der Politik im besten Fall geheuchelt sein konnte. Doch dieser Arnan hatte sich tatsächlich die Zeit genommen, der öffentlichen Sitzung beizuwohnen. Nicht, dass er dort etwas Prekäres erfahren könnte. Die Machthaber hatten ohnehin geplant, eine saubere Schausitzung mit viel gegenseitigem Lob und moderater, gut positionierter Kritik abzuhalten und dies auch nach außen hin per Faltblatt und Internetblog zu kommunizieren. Arnans Anwesenheit zeigte nur, dass die Menschen auch trotz totaler Auslastung noch ein gewisses aufrichtiges Interesse an der Politik zeigten. Das war kein Weltuntergang, aber eine Herausforderung.
Ivan rückte sich seine eckige Brille zurecht und sprach weiter: "Wenn wir schon vom Einwohnermeldeamt sprechen ... kürzlich ist ein Geologe in unser Inselparadies gezogen. In ersten Gesprächen hat er sich bereits bereit erklärt, eine leitende Stelle im Amt für Bodenschätze und natürliche Ressourcen anzunehmen. Möglichst schnell soll er die Leitung über eine Suchmannschaft übernehmen, die die Berge des Fjordlands nach Rohstoffen absuchen wird. Wie Sie wissen, ist dieser Schritt schon länger geplant. Die Frage dabei ist nicht ob wir Bodenschätze entdecken, sondern welche und wie viele."
"Wie ist die Suche geplant?", wollte Birga wissen. "Nun, wir werden an der Ostküste in der Nähe von Höhe 280 beginnen und uns von dort aus an den unteren Hängen des Mt Tacle und des Alp Peak entlang arbeiten. Bevorzugt werden wir uns die Gebiete ansehen, in denen der Aufwand für einen Abbau auch vertretbar wäre. Der Zeitplan ist ehrgeizig: Wir wollen schon in der kommenden Woche ausrücken und innerhalb zwei weiterer Wochen einen Überblick über das Gebiet haben."
Es gab keine weiteren Fragen zum Projekt, das einstimmig auf den Weg gebracht wurde. Den nächsten Punkt auf der Tagesordnung leitete Birga ein: Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum Ausland.
"Eine dreiköpfige Arbeitsgruppe der Regierung hat unsere Möglichkeiten überprüft, um möglichst bald internationale Anerkennung zu finden", berichtete er. Dazu werden wir diplomatische Beziehungen mit folgenden staatlichen Gebilden aufnehmen, die wir im Gegenzug auch im vollem Umfang anerkennen werden: der Republik China auf Taiwan, den Cookinseln, Westsahara, der Republik Somaliland, dem Kosovo, der Türkischen Republik Nordzypern, den Palästinensischen Autonomiegebieten, Abchasien sowie Südossetien." Birga straffte sich. Er versprühte einen weltmännischen Eindruck. "Da wir mit der Anerkennung des Kosovo und in gewissem Maße auch mit der der Republik China Washington einen Gefallen tun, werden wir zudem auf Facebook eine Freundschaftsanfrage an Barack Hussein Obama stellen." Jetzt machte Birga eine längere Pause. Er wollte das elektrisierende Gefühl im Raum wirken lassen, dass er von diplomatischen Beziehungen und im gleichen Zusammenhang auch von Washington und Obama sprach. Dann dozierte er weiter: "Das gleiche Entgegenkommen haben wir Moskau mit Abchasien und Südossetien zukommen lassen – auch Vladimir Putin werden wir unsere Freundschaft anbieten."
Applaus brandete auf. Es standen noch ein paar kleinere Punkte auf der Tagesordnung, bevor Mark, der diese Themen vortrug, die Sitzung schließlich beendete.
Die Pläne der Inselregierung schienen aufzugehen: Bereits nach wenigen Tagen waren sie Facebook-Freunde von Putin und Obama. Bald darauf trafen auch die ersten Diplomatenschreiben aus den angeschriebenen Gebieten im Regierungshaus ein.
Kurz nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den Palästinensischen Autonomiegebieten erreichte allerdings auch eine entsprechende Protestnote aus Israel die Insel. Diese beinhaltete die Androhung eines Einreiseverbots für Kabinettsmitglieder der Insel, sollten diese dezidiert pro palästinensisch auftreten. Die Machthaber verfassten darauf einen Antwortbrief, indem sie Israel zweifelsfrei anerkannten, und den schwierigen Weg, den der Staat seit 1948 gehen musste, mit höchstem Respekt wertschätzten. Wie in Washington würde man sich auf der Insel jedoch für eine Zwei-Staaten-Lösung aussprechen. Zudem zogen sie ihre Anfrage, um zwischenstaatliche Beziehungen an den Knesset vor. Dies war eigentlich erst viel später geplant, doch konnte man sich auf gar keinen Fall einen mächtigen Feind mit Einfluss in den USA leisten.
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