Widmung Alle Ähnlichkeiten mit Personen und Ereignissen, die nicht zeitdokumentarischen Charakter haben, sind entweder beabsichtigt oder rein zufällig.
Erklärung Wirklich tot sind nur jene, an die sich niemand mehr erinnert. Jüdische Lebensweisheit Dem Leben gewidmet
PROLOG PROLOG Dezember 1918, ein Hospiz (eine kleine Raststätte am Wege, in der auch Kranke aufgenommen werden) in der Nähe von Reichenberg, Böhmen. Karl lag im Graben. Die Wände um ihn Schlamm. War neben ihm jemand? Manchmal öffnete er den Mund, um Regenwasser zu trinken, wenn das Wasser vom Himmel stürzte. Karl wartete. Worauf? Seit Tagen. Manchmal von Weitem Geschützdonner. Einzelne Einschläge. Dann wieder Stille. Mit Stummheit geschlagen. Er wusste nicht, wie lange. Geschrei um ihn. Plötzlich überall Geschrei. Beißend drang ihm etwas in die Augen. Er sah nichts mehr. Wo befand er sich? In der Hölle? Er zitterte am ganzen Leib. Seine Haut bildete mit dem Stoff seiner Kleidung eine Einheit. Alles klebte an ihm; es waren nur Fetzen. Er fühlte nichts mehr außer Taubheit und einer alles durchdringenden Kälte. Konnte ein Mensch so etwas aushalten? Er hätte es nicht geglaubt bis zu diesem Moment. Dann erwacht er. Er braucht lange, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen und er etwas sieht. Bis er langsam begreift, dass er geträumt hat. Er erinnert sich an das Reizgas; er sei unversehrt, hatte der Arzt gesagt. Das sei ein Wunder. Er liegt im Bett. Die Laken kalt und weiß. Karl steht auf. Er holt die Waffe. Er schießt. Endlich.
DIE GRÜNE GRENZE
EIN TRAUM
DIE BAUERNFAMILIE
PRAG, 1938 bis 1941 - RÜCKBLICK
WIEN
HRADSCHIN, 1941 bis 1945 - RÜCKBLICK
… WIEN
PRAG AM KRIEGSENDE UND WARUM IRENE ZU FUSS NACH WIEN GING - RÜCKBLICK
MUTTER, ACH MAMA
MARY WIGMAN, MARIANNE VOGELSANG, DER TANZ UND IRENE
„WO BLEIBT DER TÄNZERISCHE AUSDRUCK DES WERKTÄTIGEN LEBENS?“
Reichenberg 1900 bis 1925. Familienchronik von Adolf Müller
Reichenberg 1925 bis 1938. Familienchronik von Marta Kohn
NEUBEGINN UND ABSCHIED
UND AM ENDE …
LITERATUR UND QUELLEN
Die Autorin
Hinweis
Impressum
Alle Ähnlichkeiten mit Personen und Ereignissen, die nicht zeitdokumentarischen Charakter haben, sind entweder beabsichtigt oder rein zufällig.
Wirklich tot sind nur jene,
an die sich niemand mehr erinnert.
Jüdische Lebensweisheit
Dem Leben gewidmet
Dezember 1918, ein Hospiz (eine kleine Raststätte am Wege, in der auch Kranke aufgenommen werden) in der Nähe von Reichenberg, Böhmen.
Karl lag im Graben. Die Wände um ihn Schlamm. War neben ihm jemand? Manchmal öffnete er den Mund, um Regenwasser zu trinken, wenn das Wasser vom Himmel stürzte. Karl wartete. Worauf? Seit Tagen. Manchmal von Weitem Geschützdonner. Einzelne Einschläge. Dann wieder Stille. Mit Stummheit geschlagen. Er wusste nicht, wie lange.
Geschrei um ihn. Plötzlich überall Geschrei.
Beißend drang ihm etwas in die Augen. Er sah nichts mehr. Wo befand er sich? In der Hölle?
Er zitterte am ganzen Leib. Seine Haut bildete mit dem Stoff seiner Kleidung eine Einheit. Alles klebte an ihm; es waren nur Fetzen. Er fühlte nichts mehr außer Taubheit und einer alles durchdringenden Kälte. Konnte ein Mensch so etwas aushalten? Er hätte es nicht geglaubt bis zu diesem Moment.
Dann erwacht er. Er braucht lange, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen und er etwas sieht. Bis er langsam begreift, dass er geträumt hat. Er erinnert sich an das Reizgas; er sei unversehrt, hatte der Arzt gesagt. Das sei ein Wunder. Er liegt im Bett. Die Laken kalt und weiß.
Karl steht auf.
Er holt die Waffe.
Er schießt.
Endlich.
Ende 1945 brach Irene, in einem der kältesten Winter der Wettergeschichte, von Prag aus Richtung Wien auf. Sie wollte mit der Straßenbahn weit hinter die Grenzen der Stadt fahren.
Es war noch früh am Morgen. Irene hatte einen Tag abgewartet, an dem es nicht schneite – zumindest noch nicht. Der Schnee bedeckte zentimeterdick Straßen und Häuser. Ja, es wirkte so, als bedecke er auch die Menschen, die gesichtslos an ihr vorbeihuschten. Eiszapfen hingen in bizarren Formen von Gebäuden und Laternen herab.
Irene hatte eine kleine Tasche mit den nötigsten Dingen gepackt, die sie brauchen würde und über die sie – auf den Straßen Prags herrschte der Notstand – noch verfügen konnte: eine Thermoskanne mit heißem Tee, ein kleines Messer, etwas Brot, Wurst und einen Apfel. Die Lebensmittel hatte Irene von einem tschechischen Freund erhalten, den sie vom Tanzen kannte. Der tschechische Freund bekam sie von den Russen, die die Sachen bei Plünderungsaktionen erbeutet hatten, während sie Prag einnahmen.
Außerdem packte sie ein kleines Verbandspäckchen ein, etwas Nähzeug, Streichhölzer, Wäsche zum Wechseln und – obwohl sie nicht wusste, wie sie ihn bedienen sollte – einen alten Kompass. Das verbeulte Ding lag kühl und schwer in ihrer Hand. Die Kompassnadel schwang aufgeregt herum und wusste die Richtung nicht. Der Kompass hatte ihrem Vater gehört. Sie sah ihren Vater vor sich, etwas beleibt und mit einem gütigen Schmunzeln im Gesicht. Sie sah ihren Vater, wie er die Straße entlanglief, mit der Mutter am Arm. Wie er freundlich nickend die Leute über den Gartenzaun grüßte.
Irenes Vater, ein Handelsvertreter für den feinen Rasierbedarf namens Hermann Kohn, war ein verlässlicher Charakter gewesen, ehrlich und integer. Als er in den Wirren des Ersten Weltkriegs in der preußischen Armee gegen seine eigenen polnischen Landsleute kämpfen musste, die sich auf der anderen Seite in den zaristischen Truppen befanden – er war ein polnischer Jude –, hatte er diesen Kompass bei sich, den Irene jetzt in der Hand hielt. Nur damals hatte der Kompass wohl noch funktioniert.
Irene zog alle Kleidungsstücke übereinander an, die sie besaß, rollte eine Decke zusammen, verschnürte sie mit einem Gürtel und band sie an der Tasche fest, die sie mitnehmen wollte.
Dann verließ sie die Wohnung. Sie nahm bewusst eine aufrechte Haltung ein, wie es ihr durch das Tanzen zur zweiten Natur geworden war, und zwang sich, in Richtung Tür zu gehen. Es würde in Prag keine Perspektive mehr für sie geben. Ihre tschechischen Freunde konnten ihr nicht helfen, sie nicht bei sich aufnehmen, wenn sie sich nicht selbst in Gefahr bringen wollten.
Sie hatte vor, nach Österreich zu gehen, um dort Arbeit zu suchen und um zu überleben. Eine Wienerin mit dem Namen Agnes Lehner hatte Irene eine Adresse gegeben und sie in ihre Heimatstadt eingeladen.
Irene fuhr mit der Straßenbahn an die äußerste Grenze Prags. Dann nahm sie die Eisenbahn in Richtung des Ortes Znojmo (Znain), in dessen Nähe sich die Grenze und der kürzeste Übergang nach Österreich befanden.
„Gott sei es gelobt“, dachte sie. „Ich habe noch Schuhe, was in diesen Tagen nicht jeder von sich behaupten kann.“
Trotz ihrer flachen Absätze rutschte sie auf den vereisten Wegen aus, obwohl sie es gewohnt war, bei jedem Wetter in Schuhen mit hohen Absätzen zu laufen. Neben dem Eis auf den Straßen trug auch Irenes Angst dazu bei, dass sie sich wackelig auf den Beinen fühlte.
Auf den Straßen Prags sammelten Russen und Tschechen Deutsche ein, brachten sie über die Grenze und vertrieben sie aus dem Land. Die Tschechen schlossen sich den Russen an; sie erstrebten jetzt ein kommunistisches System, um den Faschismus endgültig aus ihren Reihen zu vertreiben.
Der strenge Winter trug nicht zur Sanftmut der Menschen bei. Irenes Mutter, die von der Miliz abgeholt worden war, war da draußen in den Weiten des Winters verschollen.
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