Da Irene gut Tschechisch sprach, konnte sie der Gefahr ausweichen, als Deutsche erkannt zu werden. Dennoch war sie sehr vorsichtig, es hätte sie ja jemand wiedererkennen können oder ihren Ausweis verlangen. Und was ihr bei den Nazis noch geholfen hatte, dass sie nach deutschnationalem Gesetz als sogenannte Halbjüdin gegolten hatte – Irenes Mutter war eine Deutsche aus Böhmen –, hätte ihr jetzt den Tod bringen können, denn so absurd es klang: Dass sie überlebt hatte, war in diesen Tagen keine gute Visitenkarte.
Allerdings befürchtete sie, eher zu verhungern, als abtransportiert zu werden. Irene tauchte im Menschengetümmel unter und suchte sich einen Platz in einem Eisenbahnwaggon, wo, wie überall, sich schon andere drängelten. An einer Bahnstation stiegen Militärs ein. Die Soldaten schoben eine Gruppe traurig aussehender Gefangener vor sich her und trieben sie in einen Wagen, der eigentlich für den Transport von Lasten gedacht war. Irene bemerkte zu ihrem Entsetzen, dass es sich bei den Gefangenen um Deutsche handelte, und sie dachte an ihre Mutter, daran, wie sie still, ohne ein Wort – um Irene, die sich im hinteren Teil der Wohnung versteckt hielt, nicht zu verraten – mit den tschechischen Milizionären gegangen war.
Kurz vor dem tschechischen Städtchen Znojmo stieg Irene aus und machte sich auf in Richtung Wald, durch den sie musste, wenn sie die Grenze ungesehen passieren wollte. Vorn leuchtete er ihr dunkelgrün und schneehell entgegen und sie würde gleich in seinem Schutz verschwinden.
Sie tauchte ein in das tief verschneite Gewölbe aus Tannenzweigen, das sich unter seiner Schneelast beugte. Es hingen Eiszapfen an den Ästen wie Stalaktiten in einer Tropfsteinhöhle. Zuerst fühlte Irene sich in der Stille des weiß eingepackten Waldes aufgenommen und geborgen. Aber dann merkte sie, wie ihr die Kälte schneidend den Nacken und die Arme hinaufkroch. Die eiskalte Luft schmerzte bei jedem Atemzug in ihren Lungen. Sie bewegte sich schneller, und ihr Körper begann sich an die Umstände zu gewöhnen.
„Ich werde lange gehen müssen. Im Augenblick weiß ich noch, in welche Richtung … und das ist gut so“, dachte sie.
Plötzlich hörte sie Stimmen. Sie flüchtete, wich vom Weg ab und preschte durch den knietiefen Schnee, der ihr ins Gesicht stob. Knackend brachen Äste. Sie blieb stehen und hielt den Atem an, der sie in dampfenden Wölkchen vor ihrem Gesicht verriet. Sie lauschte. Die Stimmen waren noch ein Stück hinter ihr. Vorsichtig lief sie weiter – sie sank bei jedem Schritt ein – zu einem Gebüsch, in dessen Unterholz sie kroch. Keine Minute zu früh, denn jetzt kamen Soldaten durch den Wald. Ihre Uniformen hoben sich vom Weiß der Umgebung deutlich ab. Sie sprachen laut und fröhlich miteinander. Dann verschwanden sie auf dem Weg zwischen den Bäumen. Es herrschte wieder tiefe Stille. Ein paar Schneeflocken fielen von den Zweigen. An Irenes Fußspuren, die als dunkle Löcher im Schnee von ihrer Flucht zeugten, waren die Soldaten, in ihr Gespräch vertieft, vorbeigelaufen, ohne einen Blick zur Seite zu werfen.
Irene lief über verschlungene Pfade durch den Winterwald. Sie wusste nur ungefähr, in welche Richtung sie gehen musste. Die rotgoldenen Strahlen der Sonne leuchteten von Westen her durch die Baumwipfel.
Die Sonne würde gleich untergehen und sie hielt sich Richtung Südosten, wo sich die grüne Grenze bei Znojmo befand. Sie lief und lief und wunderte sich über die Kraft, die ihr bei jedem Schritt neu verliehen wurde. Das Vorhaben erschien ihr eigentlich unmöglich. Aber sie fragte nicht danach, wie sie es schaffen sollte, sondern ging Schritt für Schritt voran. Der Schnee lag an manchen Stellen hoch, weil er hier noch unberührt war; sie musste ihre Beine heben, die sie kaum noch spürte. Dann wieder hatte sie Glück und auf dem Pfad war der Schnee zu einer festen Decke niedergetreten. Manchmal waren hier auch Fahrzeuge entlanggekommen und hatten die Schneedecke geebnet.
Der Mond schien auf den Weg, Wolken und Sterne spielten abwechselnd Wetterleuchten und sie fühlte sich seltsam leicht. Sie wusste noch, dass sie irgendwo die zugefrorene Thaya passiert haben musste … und dann sank sie nieder. Sie fiel leicht wie eine frisch gefallene Schneeflocke.
Da ist er ja, der Kasper. Er hängt zwischen den anderen Puppen und bewegt sich nicht. Sein Gesicht mit den roten Wangen und der langen gebogenen Nase schaut sie seltsam gläsern an. „Kasper!“, ruft sie. „Kasper, hast du meine Mutter gesehen?“
Der Kasper mit seiner langen roten Mütze mit den Schellen ist nicht allein. Neben ihm befindet sich eine Prinzessin mit strohgelbem Haar, blauen Augen und noch röteren Wangen, als der Kasper sie hat. Vielleicht ist die Prinzessin errötet wegen des Kaspers Ignoranz?
„Kasper, Kasper! Warum sagst du denn nichts?“, ruft Irene.
Aber er will ihr einfach nicht zuhören, ihr nicht helfen – sonst hat er sich doch immer um alles gekümmert! Das Krokodil und der Wachtmeister sind auch da. Aber allesamt leblos in ihrem Gestell.
Jetzt wird es ihr zu blöd. „Mutter!“, schreit sie. „Mutter!“ Und rennt los. An einer Ecke dudelt ein riesiger Leierkasten. Ein großer Mann dreht die Kurbel und sieht unheimlich aus mit seinem langen Schnauzbart. Auch er sieht sie – wie der Kasper – aus gläsernen Augen an und droht ihr mit dem Zeigefinger seiner freien Hand, mit der anderen betätigt er die Kurbel.
Und dann bleibt Irene stehen: Wie gebannt schaut sie auf die weißen Pferde. Weiße, hölzerne Pferde, jedes mit einem Federbusch auf dem hoch erhobenen Kopf. Sie drehen sich mit Musik in einem bunten Karussell. Sie fliegen und fliegen und sie will mit. Alles ist vergessen, ihre Mutter, der Kasper und auch der alte Leierkastenmann. Sie will tanzen. Tanzen mit den Pferden, entschwinden mit der Musik.
Da ist sie ja! Auf der anderen Seite, zwischen den Pferdchen kann Irene die Mutter sehen. „Mutter! Mutter!“, ruft sie. Und jetzt entdeckt diese auch sie: „Da bist du ja endlich!“
Weiter geht’s zum Kettenkarussell. Das ist noch besser als die lahmen Pferde. Hier kann man wirklich fliegen! Und es glitzert über und über in allen Farben. Die Leute kreischen, quietschen und lachen hoch da oben. Kaum verschwinden sie, sind sie auch schon wieder zu sehen. Irenes Blick klebt an ihren Gesichtern, ihren wehenden Haaren. Ihre Mutter zieht sie fort. Weg von den fliegenden Pferden, ach, von den fliegenden, sich drehenden Menschen.
Es gibt noch einen süßen, roten Apfel, mit Zucker überzogen. Zu Hause beim Abendessen nimmt der Vater Irene auf den Schoß und sie erzählt ihm von diesem herrlichen Tag auf dem Reichenberger Jahrmarkt. Nur von dem unheimlichen Mann mit dem Leierkasten und von dem stummen Kasper und seinen Kumpanen, die sie allesamt im Stich gelassen haben, erzählt sie ihm nichts!
Mutter und Irene kommen am Reichenberger Theater vorüber. Wie gebannt bleibt Irene stehen. Die Mutter will sie mit sich ziehen, sie kennt schon, was sich nun abspielen wird. Aus dem Untergeschoss des schönen alten Baus dringt Musik. Irene will und muss hinsehen. Durch die Fenster kann sie sehen, wie in einem Saal junge Mädchen umherschweben. Dann wieder üben sie an einer Stange Ballettstellungen. Die strenge Stimme der Lehrerin ist zu hören: „Alle jetzt bitte Passé … Plié … jetzt bitte Tendu!“
„Mutter, dort will ich auch hin, sieh doch mal!“, bettelt sie. Mutter schaut sie an und sagt nichts.
Vater bringt sie zum Kindergarten. Das tut er immer.
„Vater, ich möchte zum Ballettunterricht“, sagt sie.
„Bist du dir sicher?“, fragt er.
Im Garten ihres Hauses in Reichenberg. Über ihr der unendliche Himmel. Sie streckt sich. Ihre bloßen Zehen berühren das grüne Gras. Es kitzelt. Während sie Kopf und Rücken gerade hält, ganz gerade, geht sie langsam in die Grätsche – langsam, ganz langsam überwindet sie den Schmerz. Als sie unten ankommt, riskiert sie einen Blick in den Himmel. Sie hat es geschafft. Sie hat den Spagat geschafft! Sie spürt den Bodenkontakt körperlich auf völlig neue Weise, so ganz auf der Erde angekommen.
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