Wieder einmal war es dieser Ort, von dem aus Greg seine Heimatstadt nahezu fluchtartig verlassen musste, und doch war ihm der Unterschied zu seiner überstürzten Abreise vor einigen Monaten deutlich bewusst. Kaum zu glauben, dass er innerhalb eines Jahres bereits zum zweiten Mal von jetzt auf gleich verschwinden musste. Es kam ihm so vor, als seien Jahre vergangen, seit er sich im Dunkel der Nacht auf dem Achslager eines Güterzugs ins Ungewisse hinausgewagt hatte.
Diese Mal dagegen reiste er als ordentlicher Passagier in Begleitung seiner Freunde. Sie hatten entschieden, so unauffällig wie möglich zu verschwinden, und was könnte unauffälliger sein, als ein frisch verheiratetes Paar aus der aufsteigenden Mittelschicht, das sich mit einem koffertragenden Dienstboten und einer Zofe auf den Weg machte, die Welt zu erkunden, wie es so viele zu Geld gekommene junge Paare vor ihnen schon getan hatten? Suri und Philt waren noch am Abend auf eine Besorgungstour der besonderen Art gegangen und heute Morgen hatten sie Mav und Trisha so fein herausgeputzt, dass selbst Greg zweimal hatte hinschauen müssen, um die beiden zu erkennen. Mav sah in seinem Nadelstreifenanzug ungeheuer elegant aus und bei Trishas Anblick fuhr es Greg noch heißer durch Magen und Brust als ohnehin schon. Das dunkelgrüne Miederkleid, der breitkrempige weiße Hut, die Spitzenhandschuhe und die feinen roten Stiefeletten unterstrichen ihre hinreißende Erscheinung wundervoll und das weiße Sonnenschirmchen mit den grünen Bordüren rundete das Bild der aufgeregten, glücklichen, frischvermählten jungen Frau aus gutem Hause perfekt ab.
Er selbst trug eine schwarze Tuchhose, ein weißes Hemd und eine schwarze Weste, dazu Lackschuhe und eine Melone. Das bis oben geschlossene Hemd kratzte unangenehm am Hals und die Schuhe, die Philt besorgt hatte, waren doch eine Nummer zu klein geraten. Greg wünschte sich im Augenblick nichts sehnlicher, als schnellstmöglich in diesen verdammten Zug zu steigen, wo er endlich den schweren Koffer öffnen und seine bequeme Reisekleidung aus Leder anziehen konnte, die für das bevorstehende Abenteuer tausendmal besser geeignet war. Neben ihm kratzte sich Peanut, die mit einem grauen Kleid und einer weißen Haube so als biedere Zofe zurechtgemacht war, dass sogar dem ernsten Josh bei ihrem Anblick ein verschmitztes Lächeln über die Lippen gehuscht war, am Haaransatz. Ihr schien die Verkleidung mindestens ebenso unangenehm zu sein wie Greg, aber auch sie klagte mit keinem Wort über ihre undankbare Rolle bei diesem Schauspiel.
„Und du bist dir ganz sicher, dass du fortgehen willst?“, fragte Philt das Mädchen ein letztes Mal.
Peanut nickte entschieden, aber sie konnte nicht verhindern, dass Tränen ihre Augen füllten und sich in zwei kleinen Sturzbächen ihre Wangen hinunter ergossen. „Ich habe Angst, Philt. Es werden schreckliche Dinge geschehen, wenn die Weißen Löwen wirklich die Macht übernehmen. Ich bin nicht so flink wie du und nicht so stark wie Josh. Ihr könnt auf euch aufpassen, aber ich müsste tagein, tagaus in unserem Hof sitzen und könnte nur noch mit Begleitschutz auf die Straße. Du weißt selbst, was man sich darüber erzählt, wie sie mit Mädchen umgehen, die sie allein in der Stadt antreffen.“
Philt nickte bekümmert. „Ja, es ist schrecklich. Trotzdem glaube ich, dass wir besser zurechtkommen würden, wenn wir alle zusammenblieben. Ich mache mir große Sorgen um dich.“, gestand er ihr.
„Dann komm mit uns!“, drang sie erneut in ihn. „Ihr alle! Wir könnten uns anderswo ein neues Leben aufbauen.“
„Das haben wir doch schon besprochen.“, mischte sich Josh gutmütig, aber bestimmt ein. „Wir sind nicht dafür gemacht, woanders hinzugehen. Das hier ist unsere Heimat. Wir können sie diesen räudigen Hunden doch nicht kampflos überlassen. Aber wir verstehen auch, dass es für dich zu gefährlich ist.“
Die Pfeife der Lokomotive ertönte und die Schaffner riefen die Reisenden lautstark dazu auf, die Wagons aufzusuchen und sich auf die Abfahrt des Zuges vorzubereiten.
Peanut fiel Philt um den Hals und Suri, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, warf sich weinend Greg an die Brust. Der Junge war von dem plötzlichen Gefühlsausbruch völlig überrascht und klopfte dem Mädchen in dem roten Kleid verlegen auf den Rücken. Verzweifelt schaute er sich um, doch seine Freunde waren alle in ihre eigenen Abschiedsszenen verwickelt. Nur Trisha stand bereits in der Tür zum Wagon. Als sich ihre Augen trafen, bildete sich Greg ein, darin neben einer großen Portion Belustigung auch eine Spur Eifersucht lesen zu können. Prompt packte er Suri an den Schultern, schob sie auf Armeslänge von sich und blickte ihr in die verweinten Augen. „Es ist ja kein Abschied auf immer. Du wirst sehen, alles wird sich regeln und dann kommen wir in Windeseile zurück. Vielleicht treffen wir uns schon viel eher wieder, als du jetzt denkst.“, versuchte er sie aufzuheitern, aber Suri überkam eine neue Woge der Traurigkeit.
Der Schaffner rief erneut die Reisenden dazu auf, den Zug zu besteigen. Josh befreite Greg aus der peinlichen Zwickmühle, indem er einen Arm um Suri legte. Greg schnappte sich den schweren Koffer und hievte ihn über den Bahnsteig zum Zug, wo ihn ein junger Zugbegleiter packte und in das Abteil des vermeintlichen Hochzeitspaares bugsierte. Erneut tönte die Pfeife der Lokomotive, diesmal dreimal in kurzer Folge.
„Zeit zum Abfahren!“, rief Philt in gespielt fröhlichem Tonfall, aber auch ihm konnte Greg ansehen, wie schwer ihm dieser neuerliche Abschied fiel. Ob er für Penaut tiefere Gefühle hegte, als er bisher angenommen hatte?
„Passt auf euch auf! Und meldet euch bei uns!“, rief Josh in das Stampfen der Dampfmaschine hinein. Die drei auf dem Bahnsteig verbliebenen Mitglieder der Gemeinschaft hoben ihre Hände und winkten, während sich der Zug ganz allmählich in Bewegung setzte. Mav schob seinen Kopf aus dem Fenster und winkte mit dem Zylinder. Greg tat es ihm mit der Melone gleich, während Trisha und Peanut, gemäß ihrer Rolle als gut erzogene junge Damen, artig auf den Sitzbänken Platz nahmen und mit schüchternem Lächeln der Verabschiedung folgten.
Als der Zug bereits an Fahrt aufgenommen hatte und im Begriff war, den Bahnhof zu verlassen, riss Philt seine Mütze vom Kopf, schwenkte sie in der Linken und rief etwas hinter ihnen her, das aber im immer lauter werdenden Dröhnen der Lokomotive unterging. Sie waren auf dem Weg und es gab kein Zurück mehr. Sie hatten ihre Entscheidung getroffen und komme, was da wolle, sie alle mussten die Konsequenzen tragen.
„Greg! Haben Sie es doch noch geschafft, dich heil da herauszuholen?“ Noch bevor Greg den Boden des Bahnsteigs unter den Füßen spüren konnte, war Nici herangesaust und hüpfte, wie immer verwegen in Lederkleidung und ihr grünes Piratenkopftuch gekleidet, begeistert vor ihnen auf und ab. Mit gemächlicherem Schritt folgten ihr Mara und Stan. Maras grünes Wollkleid und der modische Sonnenhut mit dem Blumenschmuck, der auch schon bessere Tage gesehen hatte, standen im krassen Gegensatz zu ihrer meist mürrischen Laune und zauberte Greg ein unbekümmertes Lächeln auf das Gesicht. Neben Stan, der wie immer in seine eher für eine City als für die Kolonien geeignete Garderobe eines Gentleman aus der Mittelschicht gekleidet war, wirkte Mara irgendwie passend. Sie sahen aus wie ein altes Ehepaar auf einem Sonntagsausflug.
„Habe ich es euch nicht gesagt?“, empfing Nici die beiden Nachzügler. „Mav und Trisha bringen Greg gesund und munter in die Kolonie. Das waren meine Worte!“, warf sie sich stolz in die Brust.
„Noch ist er gesund und munter.“, brummte Mara düster und strich sich eine rotbraune Strähne aus der Stirn. Dabei bedachte sie Greg mit einem düsteren, beinahe mitleidigen Blick.
Greg schaute sich unsicher zu Mav um, doch der zuckte nur kommentarlos mit den Schultern. Was sollte man von Mara auch anderes erwarten als Endzeitvisionen und düstere Prophezeiungen.
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