Greg wollte bereits zu einem Protest ansetzen, als ihm die Szene in dem kleinen Häuschen in der Terapolis in Erinnerung kam. Nathalie hatte Mav und ihm die Hilfe der Weißen Löwen angeboten. Im Gegenzug mussten sie ihr versprechen, später den Gefallen zurückzuzahlen. Greg erkannte, dass er in der Falle saß. Er knirschte mit den Zähnen, während es nun an Nathalie war, das Schauspiel zu genießen und zu warten, bis er seine Niederlage eingestand.
Endlich gab sich Greg einen Ruck. „Wobei brauchst du meine Hilfe?“, fragte er kurz angebunden.
„Nicht ich, Greg.“, korrigierte sie ihn. „Wir alle. Die ganze Organisation. Und die Menschen in dieser City. Alle, denen es nicht so gut geht wie den feinen Pinkeln in ihren prunkvollen Villen.“, hauchte sie.
Greg atmete einmal tief ein und aus. Sie hatte recht mit dem, was sie sagte. Warum fiel es ihm nur so schwer, daran zu glauben, dass sie es wirklich gut meinte? „Also schön. Was soll ich tun?“
Nathalie strahlte über das ganze Gesicht. „Hab keine Angst, Greg! Es wird sich lohnen. Für dich, für deine Gemeinschaft, für deine Freunde, für uns alle.“, rief sie beinahe überschwänglich. „Es ist nichts Unehrenhaftes, was ich von dir will. Du musst keine Gesetze brechen und niemanden hintergehen.“, versuchte sie, etwaige Zweifel bei Greg zu zerstreuen. „Es geht nur darum, dass die Mächtigen in dieser Stadt zu lange unter sich waren und keine Einflüsse von außen gespürt haben. Sie haben schon längst die Bodenhaftung verloren und wissen doch gar nicht, wie es den einfachen Menschen in der City geht.“, erklärte sie.
Dieser Analyse konnte Greg ohne Bedenken zustimmen. „Und was habe ich damit zu tun?“, fragte er irritiert.
„Du bist ein Held in dieser City, Greg.“, säuselte Nathalie und Greg bildete sich ein, einen Hauch von Bewunderung in ihren Augen zu erkennen. „Die Menschen schauen zu dir auf.“ Greg räusperte sich verlegen, doch Nathalie hob die Hand. „Du magst es nicht mitbekommen, doch es ist die Wahrheit. Ich habe weit mehr Quellen in dieser Stadt, als du vielleicht glauben magst.“
Greg glaubte das sofort, verkniff sich aber einen bissigen Kommentar.
„Ich möchte, dass du dein Ansehen nutzt, um eine Anstellung im Rathaus zu erhalten, ganz in der Nähe von Geraldine Greystone.“, eröffnete Nathalie ihm.
Diese Idee war so absurd, dass Greg plötzlich losprusten musste. Er brach förmlich in einen Lachkrampf aus und benötigte einige Zeit, sich wieder zu beruhigen. Es war ihm furchtbar peinlich, aber die Vorstellung, dass ein Straßenjunge, der nur mit Mühe Lesen und Schreiben konnte, in den Amtsstuben des Rathauses eine Anstellung fand, war einfach zu komisch. Als er sich wieder beruhigt hatte, fragte er: „Als was soll ich dort arbeiten? Als Putzfrau?“
Nathalie blieb von dem Heiterkeitsausbruch ihres Gegenübers unbeeindruckt: „Das lass unsere Sorge sein. Du wirst eingestellt werden und wir möchten, dass du unser Auge und unsere Ohren in diesem Gebäude bist. Ich will über alle Vorhaben der regierenden Gouverneurin und ihrer Berater informiert werden.“, stellte Nathalie den Auftrag, den sie Greg zugedacht hatte, klar.
Greg nickte zum Zeichen, dass er Nathalie verstanden hatte. „Und ich will, dass du hin und wieder deinen Einfluss geltend machst und der Gouverneurin Ideen unterbreitest.“, fuhr sie fort und fixierte Greg mit ihren blauen Augen.
Bei dem Gedanken daran, was von ihm gefordert wurde, trat Greg kalter Schweiß auf die Stirn. Er spürte, wie die kleinen Perlen sich über seinen Augen sammelten. Wie sollte er diese Aufgabe bestehen? Das war mehr, als er leisten konnte. Aber er saß in der Falle. Die Weißen Löwen hatten sich damals für Mav und ihn in Gefahr gebracht und sie ohne weitere Bedingungen unterstützt. Nun war es an der Zeit, den Gefallen zurückzuzahlen, auch wenn die Art der Bezahlung gar nicht nach seinem Geschmack war. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, mahlte mit seinem Kiefer und blickte zum Fenster hinaus. Schließlich gab er sich einen Ruck. „Gut, ich mache es.“, sagte er mit fester Stimme. „Aber ich werde keine Gesetze brechen.“, stellte er kategorisch fort.
„Das erwarten wir nicht von dir.“, antwortete Nathalie mit einem gönnerhaften Kopfnicken. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Erleichterung ab, als sie das Glas bis zur Neige hob und es bis zum letzten Tropfen in einem Zug leerte.
Mit einem dumpfen Drücken in der Magengegend trat Greg auf die Straße hinaus. Er schaute sich noch einmal um. Erst jetzt hatte er Zeit, das riesige Gebäude mit der verzierten Fassade genauer zu betrachten. Nicht nur in dem Zimmer, in das Nathalie ihn hatte bringen lassen, schien es Kronleuchter zu geben. Gediegene Möbel zeugten vom Reichtum der Besitzer des Hauses. Wie kamen Nathalie und die Weißen Löwen, die in der Terapolis trotz all ihrer Macht doch nur ein von Waisen bewohntes Stadtviertel mit kleinen Häusern kontrolliert hatten, an eine solch vornehme Adresse in der City?
Hätte Greg nicht so lange über diese Frage gegrübelt und statt des Hauses mehr auf die Straße geachtet, wäre ihm vielleicht der Polizist aufgefallen, der, kurz nachdem der Junge das Haus verlassen hatte, um die Straßenecke Richtung Rathaus bog. So aber machte er sich, ohne den Ordnungshüter bemerkt zu haben, tief in Gedanken versunken auf den Rückweg zu seiner Gemeinschaft. Was Josh und die anderen wohl sagen würden, wenn er ihnen das sonderbare Ansinnen der Weißen Löwen erläuterte?
XVI
„Hast du den Verstand verloren?“, brüllte Josh in einer Lautstärke durch den Hof, dass zu befürchten stand, die ganze Stadt würde Ohrenzeuge dieser Auseinandersetzung werden.
Greg zuckte zusammen und auch Philt und Peanut schauten in einer Mischung aus Verwunderung und Einschüchterung auf den großen schwarzhäutigen Künstler, der doch sonst immer so ausgeglichen und besonnen war. Noch nicht einmal damals, als Vince und Hurley mit ihrer Bande ihren Hof gestürmt und alle für die Feiertage gehorteten Lebensmittel gestohlen hatten, war er so aus der Haut gefahren wie jetzt, nachdem Greg ihnen Nathalies Ansinnen offengelegt hatte.
Greg war der erste, der sich wieder fing. Beschwichtigend hob er die Hände und fragte gequält: „Was hätte ich denn tun sollen?“
„Keine Ahnung.“, musste Josh zugeben. „Du hättest dich nie mit ihnen einlassen sollen!“
Greg schnaubte empört. „Damals in der Terapolis waren sie meine einzige Möglichkeit, etwas herauszufinden. Sie haben Mav und mich nicht nur in die Stadt gelotst, ihnen verdanken wir es auch, dass wir ungeschoren davongekommen sind.“
„Ihrem Ruf.“, korrigierte Josh. „Ich kann mich nicht entsinnen, dass du berichtet hättest, einen von ihnen noch einmal gesehen zu haben, nachdem sie euch geschnappt hatten.“
Darüber hatte Greg noch nie genauer nachgedacht. Josh hatte Recht, aber das machte seine Situation nicht besser. „Jedenfalls habe ich damals versprochen, dass ich ihr einen Gefallen schuldig bin. Und den fordert sie nun ein.“, rechtfertigte er sich.
„Das ist kein Gefallen, das ist Erpressung.“, ereiferte sich Josh. „Es ist ja nicht so, dass sie deine Hilfe für einen kleinen Einbruch einfordert, was schon schlimm genug wäre. Nein, sie will dich benutzen, um die Macht in der City zu übernehmen.“
„Was redest du denn da?“, fragte Greg empört. „Ich soll lediglich ein paar Vorschläge weiterleiten, die dem Wohl aller Bewohner der City zugute kommen.“
„Ach, haben sie ihr Programm in der Terapolis auch schon umgesetzt, so dass du sehen konntest, wie gut es funktioniert?“, warf Philt skeptisch ein.
„Sie wollen dich als Druckmittel einsetzen, Greg.“, warnte auch Peanut.
Greg schüttelte unwillig den Kopf. „Ach was!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Außerdem weiß die Gouvernerin doch gar nichts von meiner Bekanntschaft mit Nathalie.“
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