Tom Dekker
Clockwork
Roman
Steampunk • Fantasy
Impressum
Texte: © Copyright by Tom Dekker, 2019
Umschlag: © Copyright by J. Burkhardt
Verlag:
Tom Dekker
c/o Burkhardt
Lotzestr. 34
37083 Göttingen
tom.dekker@gmx.de
www.starkebücher.de
Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,
Berlin 2020
Dieses Buch gibt es auch als Taschenbuch:
ISBN: 978-3-750298-27-9
I
Das Klicken des Türschlosses hatte eine beruhigende Wirkung. Arthur Tudor stand, eine Hand gegen den schwarzen, mit Zahnradmotiven verzierten Türrahmen gestützt, an der Ladentür. Durch die verwitterte Tür konnte er aus seiner Uhrmacherwerkstatt auf die große Straße im Zentrum der City treten, wenn er das denn gewollt hätte. Arthur lauschte mit Verzücken dem charakteristischen Klicken hinter ihm, das wie jeden Abend sein Signal war, dass er sich endlich den eigentlich wichtigen Dingen des Lebens widmen konnte.
Ein erster Hauch von Dämmerung zeichnete sich am Firmament ab. Der Sommer war vorüber, schnell würden die Tage kürzer und die Nächte länger, kälter und unwirtlicher werden. Nicht, dass dieser Umstand Arthur bedrückte. Er ging so gut wie nie vor die Tür. Die wenigen Freunde, die er im Laufe seines Lebens angesammelt hatte, waren größtenteils bereits den Weg allen Irdischens gegangen, und diejenigen, die sich noch einer gewissen Gesundheit erfreuten, lebten weit weg, zu weit, um ihnen ständig Besuche abzustatten. Die lebensnotwendigsten Güter erhielt er durch den Sohn des Krämers Lazar, ein geschwätziger Junge, der dreimal die Woche nicht nur frisches Essen und Haushaltsgüter brachte, sondern auch den ganzen Unrat des städtischen Klatsches vor Arthur ausgoss. Wie oft hatte sich der alte Uhrmacher schon gewünscht, endlich taub zu werden, nur um diesem Waschweib von einem Bengel nicht mehr länger bei seinem unsäglichen Gequassel zuhören zu müssen. Die Ersatzteile für seine Uhren stellte er größtenteils selbst her, und wenn er doch einmal ein neues Werkzeug benötigte, schickte er seinen neuen Burschen, es zu holen.
Beim Gedanken an den Jungen stahl sich ein verträumtes Lächeln in seine Mundwinkel. Der Bursche hatte Talent. Er war fleißig, diensteifrig, immer pünktlich, geschickt und vor allem – schweigsam. Stundenlang konnten sie in der kleinen Werkstatt zusammenhocken, Uhren auseinandernehmen und neu zusammensetzen und sich gegenseitig Schraubendreher und Pinzetten reichen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Bereits nach wenigen Tagen schien der Junge jeden seiner Gedanken vorauszuahnen und beinahe kongenial arbeiteten sie Hand in Hand an schwierigsten Konstruktionen, die Arthur selbst erst nach Jahren der Lehre gemeistert hatte. Ja, der Junge hatte Talent!
Arthurs Blick fiel auf eine alte Frau, die eine Metalldose vor sich her trug und mit einem Löffel darauf einschlug. Das monotone Gongen klang in den Ohren des alten Uhrmachers wie ein ungehörter Hilfeschrei, nutzlos, abgestumpft, ohne jeden Sinn. Seine Schultern sanken um einen Fingerbreit nach unten. Resigniert schüttelte er den Kopf, zog den Schlüssel aus dem Schloss und schlurfte langsam von der Tür weg in den hinteren Teil seines kleinen Ladens, dorthin, wo er hinter einem braunen Vorhang seine Werkstatt eingerichtet hatte. Ihm war nicht verborgen geblieben, dass viele Bewohner der City litten. Die Wertmarken flossen nicht mehr so reichlich von Hand zu Hand und auch Tauschwaren verschwanden nach und nach vom Markt. Auch in seinem Laden ließen sich immer weniger Kunden blicken. Die Nachfrage bestimmte vielleicht das Angebot, aber die Zahlungskraft bestimmte die Nachfrage.
Nicht, dass es Arthur etwas ausgemacht hätte, weniger seiner kostbaren Zeit mit den Gelüsten und Sonderwünschen seiner Kunden vergeuden zu müssen. Er brauchte nicht viel zum Leben und was er besaß, würde weit über seinen Tod ausreichen, um ihn zu versorgen. Wovon er nicht mehr viel besaß, war Zeit. Was für eine Ironie des Schicksals! Ein flüchtiges, verbittertes Lächeln huschte über Arthurs Gesicht.
Behutsam setzte Arthur Tudor den großen Zylinder ab, der sein Markenzeichen bei seinen Kunden und darüber hinaus in der ganzen Stadt bekannt war. Liebevoll strich er über die kleinen und großen Uhren, Federn und Zahnräder, die ihn umgürteten und zierten, wie es nur beim Hut eines Uhrmachers der Fall sein konnte. Bedächtig zupfte er das weiße Tuch aus der Brusttasche seiner Jacke und befreite die Verzierungen sorgfältig vom Staub des Tages.
Ja, es war schnell bergab gegangen mit der City. Noch vor wenigen Wochen war Collin Rands Stern am politischen Himmel steil aufgestiegen. Es galt als ausgemachte Sache, dass er der neue Gouverneur der City werden würde. Die Schlote der Fabriken spuckten unablässig Rauch, die Jugendbanden hatten sich in die Schemen und andere berüchtigte Stadtviertel zurückgezogen und jeder, der auch nur ansatzweise wusste, wie man sein Scherflein ins Trockene brachte, hatte sich mit Collin Rand und seinem Anhang an Speichelleckern und Arschkriechern gutgestellt. Die Wertmarken wechselten eifrig den Besitzer und die Geschäfte gingen außerordentlich gut.
Doch dann war alles durch diesen Prozess ins Wanken geraten. Arthur Tudor konnte gar nicht umhin, alles haarklein zu erfahren. Das ohnehin schon lose Mundwerk des Krämerjungen hatte in diesen Tagen vermutlich niemals stillgestanden. Collin Rand war wegen der Beteiligung an politischen Morden ins Exil geschickt worden und die Gouverneurswahl musste verschoben werden.
Ein irres Kichern entrang sich der Kehle des alten Uhrmachers. Rands Fabriken wurden stillgelegt, die Ordnung in der Stadt brach in Windeseile zusammen, Mobs von arbeitslosen Jugendlichen tobten sich in der Stadt aus und die Ordnungshüter hatten die öffentliche Ordnung sich selbst überlassen. Die Straßen der Stadt waren kein sicherer Ort mehr, wenn sie es denn jemals gewesen waren. Wie gut, dass er selbst nicht oft auf die Straße hinaus musste!
Arthur steckte das Staubtüchlein zurück in seine Jacke, holte aus der Hose ein größeres, rot kariertes Tuch hervor und tupfte sich die Schweißperlen von seinem haarlosen Schädel. „Wir haben's gut, was, Molly?“, sagte er zu der großen Schrankuhr, die in der hinteren linken Ecke seiner kleinen Werkstatt aufragte wie ein Wachturm. „Niemand da, der uns stört.“ Kichernd beugte er sich über den großen, abgewetzten Tisch, der den Raum dominierte. Überall lagen Ziffernblätter, Zeiger, Zahnräder, Federn, Rädchen und Schrauben in so kleinen Größen herum, dass ein einfacher Besucher es für unmöglich gehalten hätte, sie mit den feinmotorischen Fähigkeiten eines normalen Menschen in den kleinen Uhrgehäusen zwischen all den anderen Dingen zu befestigen. „Und Ihr, meine kleinen Schätzchen,“, wandte sich Arthur Tudor an ein Häufchen Zahnräder, das er behutsam zusammenkehrte, „müsst jetzt zurück in eure Bettchen. Zeit für die Nachtruhe!“ Während er die Zahnräder der Reihe nach mit einer Pinzette anhob, mit einem winzigen Rasierpinsel abbürstete und sie in freie kleine Kästchen seines riesigen Schubladenschranks, der zwei komplette Wände der Werkstatt einnahm, einsortierte, summte der alte Uhrmacher wie jeden Abend eine uralte Melodie, die er von seiner Großmutter gelernt hatte. Den dazugehörigen Text hatte Arthur längst vergessen, doch die Musik hatte sich tief in sein Innerstes gebrannt und würde ihn nie verlassen.
Es war bereits dunkel, als Arthur Tudor endlich damit fertig war, die Geräte, Utensilien und Werkzeuge zu reinigen und in den für sie vorgesehenen Fächern zu verstauen, nicht ohne jedem einzelnen von ihnen noch einen frohen Spruch oder gute Wünsche für die Nacht mit auf den Weg gegeben zu haben. Mühsam streckte er den alten Rücken durch, wobei er sich mit beiden Händen unterhalb der Nieren abstützte.
Читать дальше