Tom Dekker
Terapolis
Roman
Steampunk • Fantasy
Terapolis
Tom Dekker
Impressum
Texte: © Copyright by Tom Dekker, 2018
Umschlag: © Copyright by J. Burkhardt
Verlag:
Tom Dekker
c/o Burkhardt
Lotzestr. 34
37083 Göttingen
tom.dekker@gmx.de
www.starkebücher.de
Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,
Berlin 2019
ISBN: 9783748511991
I
Die Stadt war noch nicht zur Ruhe gekommen. Das Stampfen und Dröhnen des Verkehrs auf den Hauptverkehrsadern drang bis in die hintersten Winkel und Gassen auch der heruntergekommenen Viertel vor, in die sich nie eine Dampfkutsche verirrte. Der allgegenwärtige Dunst, der sämtliche Gegenden der Stadt durchwaberte, ließ im Zwielicht des Abends die Menschen, die durch die Straßen und Gassen hasteten, nur als gespenstische Schatten erahnen.
Gäbe es eine Rangliste der heruntergekommensten Viertel der City, hätte die Gegend, durch die sich der alte Nick gerade bewegte, eine realistische Chance auf einen Podestplatz gehabt. Vorsichtig tastete der alte Mann sich mit den in heruntergetretenen Stiefeln steckenden Füßen durch die unbeleuchteten Gassen. Rechts und links drängten sich dicht an dicht fünfgeschossige Ziegelhäuser aneinander, so als müssten sie sich gegenseitig stützen. Die Straßen und Gassen, in die schon bei Tage nur wenig Licht fiel, waren nicht an das städtische System der Gasbeleuchtung angeschlossen, so dass nur die sich gelegentlich durch Fensterläden stehlenden Lichtstrahlen eines Kamins oder einer anbarischen Birne hier und da helle Flecken auf den Gehsteig zauberten. Was Nick in diesen vom Dunst der Stadt umhüllten Lichtpunkten erkennen konnte, ließ ihn wenig Gutes für die großen Bereiche des Weges, die bereits in völliger Dunkelheit lagen, erahnen.
Aufmerksam lauschte Nick in die Nacht, doch es drangen keine Geräusche anderer Lebewesen an sein Ohr. Er spürte sein Herz vor Aufregung rasen. Er wäre nicht der erste, der in die Schemen ging und nie wieder gesehen ward. Besser, er beeilte sich, solange niemand sonst auf den Straßen unterwegs war. Nick beschleunigte seine Schritte. Verdammt! Er sollte sich lieber auf seinen Weg konzentrieren, als nach Schatten zu suchen. Langsam hob er den rechten Fuß, der soeben in etwas weiches, glibberiges getreten war, und kratzte ihn mehr recht als schlecht an der Kante einer Rinne ab. Ein Geruch, der, so unglaublich das auch scheinen mochte, noch übler war als der ohnehin allgegenwärtige Gestank von Unrat und Fäkalien, der die Schemen tagein, tagaus durchzog, drang von unten her an seine Nase. Nick zuckte unbeholfen mit den Schultern. Das war jetzt nicht zu ändern. Nach einem weiteren Blick über die Schulter setzte er seinen Weg vorsichtig fort. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren!
Nach einigen Metern blieb er stehen und wandte sich um. Beinahe hätte er die schmale Gasse übersehen, die ihm der Junge beschrieben hatte. Er hatte sie in dem von Dunstschleiern durchwobenen Gewirr aus Schwarz- und Grautönen aus dem Augenwinkel heraus nur daran erkannt, dass sie eine Spur schwärzer erschien als die sie rechts und links flankierenden Hauswände. Nick lauschte in die Gasse hinein und sah sich erneut um. Immer noch nichts. Wüsste er es nicht besser, er hätte angenommen, die Bewohner der Schemen wären durch die Bank friedfertige, brave Bürger, die ihren Feierabend mit der Familie vor dem heimischen Ofen verbrachten. Natürlich gab es auch so etwas, sogar hier, in diesem Vorhof der Hölle, aber es gab auch die anderen. Das Viertel hatte sich seinen Namen redlich verdient.
Nick machte einen schnellen Schritt in die Gasse hinein. Vor neugierigen Blicken sollte er nun verborgen sein. Wenn er nur leise genug ging, würde ihn in dieser Finsternis, in der man die eigene Hand vor Augen nicht sehen konnte, niemand bemerken. Die Häuserwände warfen jedes Geräusch wie ein Echoverstärker lauthals in die Gasse zurück, aber Nick war nicht zum ersten Mal in stummer Mission unterwegs. Er wusste, wie er sich verhalten musste, um lautlos voranzukommen.
Ein Geräusch schräg über ihm ließ ihn zusammenzucken. In eine Mauernische gedrängt, spähte er nach oben. Hinter einem Fensterladen drang Babygeschrei auf die Straße. Die Mutter versuchte, beruhigend auf das schreiende Kind einzureden. Ein Lächeln stahl sich auf Nicks Gesicht. Diese Geräuschkulisse sollte es ihm leichter machen, unbemerkt voranzukommen. Er schob sich zurück in die schwarze Gasse und hastete, soweit es ihm die Sichtverhältnisse erlaubten, eine Hand an der rechten Hauswand entlangstreifend voran.
Plötzlich hielt er inne. Das Kindergeschrei hatte aufgehört. Wichtiger aber war das Gefühl an seiner rechten Hand. Deutlich hatte er das metallene Abflussrohr erspürt, das hier die Hauswand herunterlief. Es musste das einzige Abflussrohr in der ganzen Gasse sein. Seine Hand tastete suchend an dem Rohr entlang, bis sie einen kleinen versteckten Vorsprung auf dem Metall entdeckte. Er drückte auf die Erhebung und blieb in angespannter Erwartung stehen.
Nicks Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Kein Geräusch drang an seine aufmerksamen Ohren. Umso mehr schrak er zusammen, als sich plötzlich eine starke Pranke auf seinen Mund presste und drei kräftige Hände ihn zur Seite zogen. Ein Stück Stoff wurde ihm um die Augen gebunden. Nicht, dass er in dieser sternenlosen, vernebelten Nacht dadurch weniger gesehen hätte als zuvor. Aber der Junge hatte ihm erklärt, dass es so ablaufen würde, also ließ er die Maßnahmen ohne Gegenwehr über sich ergehen. Er wurde eingehend abgetastet und danach einige Male um die eigene Achse gedreht, so dass er auch noch den letzten Rest an Orientierung, den er sich in den Schemen bewahrt hatte, verlor.
Einer der beiden Männer, Nick war sich sicher, dass die großen, starken Hände, die ihn gepackt hielten, Männern gehören mussten, bohrte ihm seinen Finger sanft aber bestimmt in den Rücken und Nicks Füße setzten sich automatisch in Bewegung. Mehrmals bogen sie nach rechts oder links ab. Die Straßengeräusche wurden immer leiser, was Nick vermuten ließ, dass es noch weiter in die Elendsviertel hinein ging. Einmal spürte er einen starken Luftzug von links, ein andermal roch es nach verbranntem Rattenfleisch und billigem Fusel, vielleicht ein Sammelplatz von Streunern, überlegte Nick. Die meiste Zeit über aber waren nur Stille und die beiden schweigsamen Männer seine Begleiter.
Nick konnte nicht mehr einschätzen, wie lange sie gelaufen waren, als er plötzlich am Arm zurückgezogen wurde, eine deutlich Aufforderung, stehenzubleiben. Er hörte, wie ein Schlüssel in ein Schloss geschoben wurde und dieses mit einem leisen Knacken aufsprang. Dann drang das unscheinbare Geräusch einer sich lautlos öffnenden Tür an seine Ohren, ein Geräusch, das man nur wahrnehmen konnte, wenn man, so wie Nick notgedrungen, alle anderen Sinne ausgeschaltet hatte. Er wurde nach vorn geschoben und kurz danach fiel hinter ihm die Pforte ins Schloss.
Das erste, was Nick sah, als ihm die Augenbinde abgenommen wurde, war ein gleißendes Licht, das ihm fast die Netzhaut versengte. Er kniff die Augen zusammen und hob schützend eine Hand vor das Gesicht. Allmählich ließen die flackernden Flammen vor dem Inneren seiner Augen an Intensität nach und er blinzelte in den Raum, der sich als ein von einer Kerze erleuchteter Hausflur herausstellte.
„Mister Fingrey erwartet dich.“, sagte einer seiner beiden Begleiter mit tiefer Stimme in seinem Rücken. Nick verspürte den Drang, sich umzudrehen, vermutete aber, dass es für seine Gesundheit und Sicherheit besser wäre, die Gesichter der beiden nicht zu kennen. Also schritt er mit möglichst gelassener Haltung auf die einzige Tür zu, die am Ende des Hausflurs zu sehen war.
Er drückte die Klinke herunter und schob die Tür so weit auf, dass er hindurchschlüpfen konnte. Nick zuckte kurz zusammen, als sie hinter ihm zugezogen und verschlossen wurde. Die beiden waren wirklich gut, stellte er anerkennend fest.
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