Als Peanut und Suri endlich keuchend im Sand saßen, klatschte Josh in die Hände. „Na, das ging doch schon ganz flott. Jetzt noch drei Runden um den Hof gerannt und schon sind wir fertig.“, sagte er mit fröhlicher Stimme.
„Warum musst du sie immer so quälen? Du siehst doch, dass sie völlig erschöpft sind.“, empörte sich plötzlich aus dem Halbdunkel der verfallenen Toreinfahrt eine Mädchenstimme.
„War doch nur ein Scherz, Natty“, kicherte Josh und entblößte eine Reihe strahlend weißer Zähne. „Denkst du, ich könnte mit dem Ding ernsthaft über den Hof rennen?“, lachte er und zeigte auf die einfache hölzerne Prothese, die statt eines Unterschenkels aus seiner Tuchhose schaute. „Wir sind fertig für heute. Guter Einsatz von allen. Greg, du entwickelst dich prächtig.“, richtete er noch ein paar Worte der Anerkennung an den Jungen. Dessen Herz begann zu rasen. Er spürte, wie die Schlagader am Hals hämmerte und ihm die Röte ins Gesicht schoss. Josh hatte ihn nach dem Training noch nie gelobt.
„Außerdem wisst ihr selbst, dass es notwendig ist. Nur, wenn wir in guter körperlicher Verfassung sind, können wir in der City überleben. Es haben nicht alle so leicht wie du, Natty.“, erklärte er, wie fast jeden Abend nach den schweißtreibenden Übungseinheiten, warum es so wichtig war, dass sie sich dieser Tortour unterzogen.
„Sie hat sich das nicht ausgesucht, Josh.“, sprang Peanut Natty zur Seite.
„Schon gut, schon gut!“ Josh hob beschwichtigend die Hände. „Es war keine Anklage. Aber es ist nun einmal so, dass wir hier jeden Tag damit rechen müssen, um unser Leben zu kämpfen. Schaut euch doch mal um!“ Mit seinen Händen zeigte er auf das halb verfallene Lagerhaus, das ihr Zuhause darstellte, und die bröckelige übermannshohe Mauer, die den kleinen Innenhof umfasste, in dem die kleine Gemeinschaft für gewöhnlich den Großteil des Abends verbrachte. „Das hier ist alles, was wir haben.“
„Ich find's toll.“, sagte Philt und wand seinen zerschlissenen Statson-Hut in den Händen. „Es gibt nicht viele Gemeinschaften, die so eine tolle Hütte haben, das kann ich dir sagen.“
Josh strubbelte ihm mit der Linken durch seine braunen zerzausten Haare. „Das weiß ich doch, Kleiner. Aber genau deshalb müssen wir in der Lage sein, unser Zuhause zur Not zu verteidigen. Und wenn du jeden Tag draußen unterwegs bist und Sachen suchst, ist es sicher auch von Vorteil, wenn du stark bist und auch mal schnell weglaufen kannst, oder?“
Philt schaute mit seinen großen grünen Augen zu ihm auf und nickte.
„Trotzdem musst du nicht so auf Natty herumhacken.“, schaltete sich Peanut wieder in das Gespräch ein.
„Ich hacke nicht auf ihr herum.“, dozierte Josh, „Ich erkläre ihr nur, warum wir uns jeden Abend schinden müssen, und sie nicht. Am Ende des Tages schlafen wir im Strohlager hier in unserem halb verfallenen Häuschen, während sie sich in ihrem warmen Bett in der Villa ihrer Eltern einkuschelt. Trotzdem würde dir ein bisschen mehr körperliche Ertüchtigung auch nicht schaden, schließlich ist es für ein Mädchen in deinem Aufzug nicht ganz ungefährlich, allein durch die Stadt zu laufen.“, wandte er sich direkt an Natty und deutete auf ihren weißen breitkrempigen Hut und den mit bunten Stickereien gesäumten Wollmantel, unter dem ein hellblaues Korsettkleid und braune Lederstiefeletten hervorlugten. „Ich kenne einige Leute, die dafür töten würden.“
„Ich kann schon gut auf mich selbst aufpassen. Noch dazu bin ich mit meinem Roller viel zu schnell.“, gab Natty schnippisch zurück, klopfte auf den Sattel ihres Dieselrollers, den sie neben dem Tor an die Mauer gelehnt hatte und reichte Suri einen kleinen Korb, aus dem der Zipfel einen großen Wurst herausragte. „Es ist ja auch nicht so, dass ich gleich durch die Schemen spaziere.“
„Das stimmt.“, gab Philt ihr Recht. „Aber auch hier kann es ganz schön rau zugehen.“
„Ich bin heute erst wieder Vince und Hurley über den Weg gelaufen.“, warf Greg ein.
Peanut schlug sich die Hand vor den Mund.
„Dafür siehst du aber noch ganz gut aus.“, witzelte Josh mit besorgtem Blick.
„Ich bin rechtzeitig losgerannt. Sie hatten wohl etwas Wichtiges zu tun, denn sie haben schnell die Verfolgung abgebrochen. Selbst, als ich sie als fußlahme Feiglinge beschimpft habe, haben sie nur abgewunken und sind abgedampft.“, protzte er.
Gregs Hochgefühl wurde jäh gedämpft, als ihm eine zierliche Hand quer auf die Wange klatschte. „Bist du von allen guten Geistern verlassen, Gregory!“, empörte sich Suri. „Wenn du dich selber in Gefahr bringst, weil du zu dämlich bist, ist das deine Sache, aber mit solchen Sprüchen bringst du diese Schläger gegen uns alle auf. Du weißt ganz genau, dass sie noch ein paar Rechnungen mit Josh und Frog offen haben.“ Wütend stemmte sie die Hände in die Hüften und funkelte Greg aus ihren braunen Mandelaugen an. Der senkte beschämt den Blick und starrte ihr orange-schwarzes Kleid, dass sich um den engen Mieder legte wie eine zweite Haut, an. Nicht zum ersten Mal spürte er verwirrt, wie ihm bei diesem Anblick ein dicker Klos im Hals anzuwachsen schien und sich zwischen seinen Beinen ein kribbelndes Gefühl ausbreitete. Beschämt und verlegen zwang er seinen Blick weiter nach unten, so dass er nur noch die hohen schwarzen Stiefel sah, die Suris Waden bis zu den Knien umschlossen. Aber auch dieser Anblick machte es nicht wirklich besser.
„Jetzt lass ihn mal!“ Josh war hinter Suri getreten und hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt. „Es ist ganz schön mutig für einen sechzehnjährigen Waisen, sich mit Vince und Hurley anzulegen. Wir brauchen selbstbewusste Mitstreiter in unserer Gemeinschaft. Und Greg hat sich prächtig entwickelt, seit er zu uns gestoßen ist.“ Er legte Greg die freie Hand auf die Schulter. „Jetzt lasst uns essen! Ich bin gespannt, was Philt und Natty ausgefallenes mitgebracht haben.“
Greg ließ sich widerwillig von Josh zur Feuerstelle schieben. Er hatte es satt, von den anderen ständig als kleines, unvorsichtiges Kind behandelt zu werden. Er lebte nun schon seit mehr als einem halben Jahr in der Gemeinschaft und trug seinen Teil zum Überleben der Gruppe bei – einen nicht unwesentlichen Teil, wie er sich selbst gern vor Augen führte, schließlich verdiente er mit seiner Arbeit in der Dieselmotorenfabrik mehr Wertmarken als alle anderen. Und trotzdem taten vor allem Suri und Philt oft so, als wäre er ein dummes Kleinkind, das für alle Probleme verantwortlich war, die sie sich selbst zuzuschreiben hatten. Und das würde er gern mal loswerden. Aber Josh war der unausgesprochene Chef der kleinen Gemeinschaft und wollte diesen Konflikt offenbar vermeiden.
Also setzte sich Greg an die Feuerschale und versuchte, an etwas anderes zu denken, als an Suris sich unter dem orange-schwarzen Kleid abzeichnende Kurven. Der Stoß eines Ellenbogens in seine Rippen holte ihn zurück aus seinen verwirrenden Gedanken. Natty hatte sich neben ihn gesetzt und strahlte ihn aus ihren blauen Augen an. Ein feiner Veilchenduft ging von ihr aus. Greg hatte schon davon gehört, dass die eleganten Damen in den Villenvororten der Reichen sich teure Duftwässerchen hinter die Ohren tupften, aber bisher hatte er sich nicht vorstellen können, wozu das gut sein sollte. Doch der verführerische Blumenduft, der nicht zu aufdringlich die normalen Dünste der City aus Schweiß, Abgasen, Öl, verbrennendem Holz und Abfällen durchdrang, machte die ohnehin schon angenehme Gesellschaft Nattys noch wohltuender. Ihre Augen waren so klar, dass Greg das Gefühl hatte, darin ertrinken zu können, wenn er nicht vorsichtig genug wäre. Wie vorhin bei Suri ertappte er sich erneut dabei, wie sein Körper eigenartige Signale aussandte. Seine Hände begannen ganz leicht zu zittern, er spürte, wie ihm im Nacken der Schweiß aus den Poren drang und wieder war da dieses unheimliche Kribbeln in der Lendengegend. Was war nur los mit ihm?
Читать дальше