Greg riss seinen Blick von Nattys Augen los und wandte sich hastig dem Feuer zu.
„Alles in Ordnung?“, fragte Natty halb belustigt, halb beunruhigt.
Greg nickte. „Ja, alles bestens.“ Er musste ein unverfängliches Thema finden. Was sollte Natty von ihm halten, wenn sie herausfand, wie ihm in ihrer Nähe zumute war? „Aber ich habe einen Bärenhunger.“
„Das trifft sich gut.“, rief sie aufgeregt und klatschte in die Hände. „Ich habe euch eine Räucherwurst mitgebracht.“ Sie deutete auf Suri, die gerade mit dem riesigen Brotmesser Stücke von einer ellenlangen Wurst abschnitt.
„Mmmmh, lecker.“, schnurrte Greg. „Sowas haben wir viel zu selten. Auf Dauer sind die ewigen Bohnen aus der Dose doch etwas einseitig.“
Natty nickte bekümmert. „Es tut mir leid, dass ich euch nicht mehr bringen kann. Aber unsere Köchin achtet streng auf die Vorräte, da ist es nicht so einfach, etwas herauszuschmuggeln.“
„Du tust schon mehr als genug für uns, Natty.“, schaltete sich Josh, der sich von den beiden unbemerkt neben Greg gesetzt hatte, in das Gespräch ein. „Durch dich geht es uns viel besser als den meisten anderen Gemeinschaften in der Innenstadt.“
„Ganz zu Schweigen von den Leuten in den Schemen.“, mischte sich Peanut ein, die ebenfalls auf das Gespräch aufmerksam geworden war.
„Ja, alles in allem können wir von Glück sagen, dass wir hier zusammengefunden haben. Es könnte uns viel schlechter gehen.“, stimmte auch Philt zu.
„Und damit das so bleibt, müssen wir unsere Körper und unseren Willen jeden Tag in Form halten.“, grinste Josh in die Runde.
„Jaja. Wir haben es verstanden.“, knurrte Suri und klatschte eine große Portion Bohnen in eine irdene Schale. Sie reichte die Schale an Peanut. „Hier, damit du auch morgen noch genug Kraft für Joshs Schinderei hast.“, raunte sie ihr so laut zu, dass es alle verstehen konnten.
Philt schnaubte leise vor sich hin und auch Peanut musste kichern. Suri zwinkerte Greg zu und der konnte das Lachen nicht mehr unterdrücken. Es platzte aus ihm heraus und die ganze Anspannung des Tages brach sich Bahn. Die anderen konnten nun auch nicht mehr an sich halten und prustend und schnaufend hielten sie sich die Bäuche und wanden sich auf dem Boden.
„Hab ich irgendwas wichtiges verpasst?“, ließ sich eine tiefe Stimme aus Richtung des Torbogens vernehmen, als sich die Lautstärke des Gelächters langsam gelegt hatte.
Greg drehte sich um, aber das flackernde Licht der Feuerschale drang nicht bis zu der Person vor.
„Nur die täglichen Übungen, wie üblich.“, rief Josh in die Dunkelheit hinein. „Komm, Frog! Das Essen ist gerade fertig.“
„Na, da komme ich ja genau richtig.“, ließ sich der Angesprochene nicht zweimal bitten. Er schob die schweren Torflügel zu und schlenderte zu der Gruppe am Feuer. „Ihr sollt doch bei Dunkelheit das Tor schließen.“, tadelte er die Runde mit einem Kopfschütteln und seufzte missbilligend. „Wann lernt ihr endlich, dass ihr nicht so leichtsinnig sein dürft? Die City ist gefährlich, vor allem bei Nacht.“
„Sagt einer, der jede Nacht unterwegs ist.“, erwiderte Philt in sarkastischem Tonfall.
„Ja, weil er abends seine Wertmarken verdient.“, konterte Frog. „Oder hast du schon mal davon gehört, dass eine Big Band in der Mittagszeit zum Tanz aufspielt? Da swingt es sich bekanntlich nur halb so gut wie am Abend. Außerdem ist es für mich weniger gefährlich als für euch.“, fügte er im Brustton der Überzeugung hinzu.
„Ach ja? Wie kommst du denn darauf?“, fragte Suri interessiert mit einem angriffslustigen Ton.
„Na, schau mich an!“, tönte Frog und deute an sich herunter. „Ich bin schwarz. Ich trage einen schwarzen Frack, schwarze Hosen und schwarze Schuhe. Der Kasten meiner Trompete ist schwarz. Wenn ich die Augen schließe, bin ich nachts faktisch unsichtbar.“
Dieser Logik hatte niemand etwas entgegenzusetzen. Während Suri Suppe und Wurst verteilte und Frog seinen Frack ablegte und sich seine bequeme Tuchhose, eine Wolljacke und ausgetretene Schuhe anzog, hingen alle ihren Gedanken nach. Greg dachte an all die dunklen Ecken der riesigen Stadt, in denen sich Frog so viel besser verbergen konnte als er selbst. Er kannte einen Großteil der City wie seine Westentasche. Seit er vor fast zehn Jahren aus dem Waisenhaus ausgerissen war, lebte er auf den Straßen dieser Stadt. Den größten Teil seines Lebens hatte er in den von halb verfallenen alten Wohnkasernen gesäumten Straßen und Gassen der Innenstadt und den stinkenden Fabrikhallen und Industrieruinen des Ostviertels verbracht. Aber auch das Verwaltungsviertel mit dem prunkvollen Gouverneurspalast, dem Gericht, den höheren Schulen und den schicken Geschäften kannte er in- und auswendig. Und natürlich den lautstarken, quirligen Markt, wo er sich viele Jahre lang dadurch am Leben erhalten hatte, dass er die wohlhabenden Händler und Käufer um das erleichterte, was sie ohnehin nicht vermissen würden. Manchmal war er den Reichen sogar bis zu ihren sauberen Vororten gefolgt. Wie hatte er die Jungen in ihren Matrosenanzügen und Lackschuhen beneidet, wenn sie lachend und singend hinter den Zäunen der Wohnviertel, in denen die Luft so sauber und die Häuser so farbenfroh waren, zum festlich gedeckten Abendbrottisch spazierten. Wie oft hatte er geträumt, eines Tages kämen seine Eltern, die er bisher nicht kennen gelernt hatte, in die Stadt, würden ihn auf dem Markt erkennen und mit in eine dieser wundervoll verzierten Villen mit Badezimmer, Vorratsschrank und einem warmen Daunenbett nehmen und mit ihm als richtige Familie leben.
Und dann war er eines Tages Frog über den Weg gelaufen, der aus einer der umzäunten Siedlungen herausspaziert kam, als wäre er da zu Hause. Er hatte dem Jungen in den abgerissenen Kleidern wohl angesehen, was für Gedanken ihm durch den Kopf gingen. Als er Greg abends in das Lagerhaus im Stadtzentrum mitgenommen und die Gemeinschaft beschlossen hatte, ihn aufzunehmen, einfach so, ohne irgendwelche Forderungen, da hatte er endlich seine Familie gefunden. Ja, er fühlte sich wohl bei seiner Gemeinschaft und er war stolz, dass er seit ein paar Monaten in der Dieselmotorenfabrik arbeitete und sich so geschickt angestellt hatte, dass er nun sogar Gasschmelzschweißer war und jeden Freitag viele Wertmarken für die Gruppe mitbringen konnte. Er fühlte sich wohl in der Gemeinschaft, wohl in der Fabrik von Jesua Fingrey, wohl in seiner Stadt. Nur die Schemen, das heruntergekommenste Wohnviertel, in das sich nicht einmal die Wachmänner des Gouverneurs wagten, mied er tunlichst. Dort konnte ihm niemand helfen und selbst Frogs Unsichtbarkeit war in den Schemen nicht unsichtbar genug. Ein Schaudern lief ihm kribbelnd den Rücken hinunter.
„... bin ich noch bei einer Wahlveranstaltung hängen geblieben. Deshalb ist es etwas später geworden.“ Frogs Stimme riss Greg aus seinen Gedanken. Offenbar hatte er ganz verpasst, wie das Gespräch wieder in Gang gekommen war.
„Und? Hast du irgendetwas Spannendes gehört?“, fragte Peanut eher gelangweilt.
„Und ob!“, rief Frog. „Collin Rand persönlich hat gesprochen.“
„Collin Rand?“, fragte Philt und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Dieser aufgeblasene Fatzke!“
„Und demnächst neuer Gouverneur.“, raunte Josh. „Es dürften kaum Zweifel daran bestehen, dass Rand die Wahl gewinnt.“
„So, wie er alle aussichtsreichen Mitbewerber ausgeschaltet hat, sicher nicht!“, bemerkte Suri.
„Meinst du die Sache mit Morgan?“, fragte Frog. „Also, ich glaube nicht, dass Rand so dumm wäre, einen Konkurrenten umbringen zu lassen. Er ist ein mieses Schwein, aber wenn das rauskäme, wäre es politischer Selbstmord. Da könnte sich nicht einmal Rand herauswinden.“
„Wenn er schlau genug ist und die Schläger, die Morgan in die Schemen geschleift und dort zerhackt haben, ebenfalls um die Ecke bringt, hat er nicht viel zu befürchten, oder? Aus der Sache mit Heyworth hat ihm auch keiner einen Strick gedreht und alle wissen, dass Rand dahintersteckt.“, spann Suri den Faden weiter.
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