„Was soll sich denn ändern?“, grunzte Philt pessimistisch zurück.
„Keine Ahnung.“, musste Greg zugeben. „Aber Geraldine Greystone hat viel Erfahrung. Sie müsste nur dafür sorgen, dass die Fabriken wieder geöffnet werden. Dann hätten die Menschen wieder Arbeit und Hoffnung.“
„Geraldine ist viel zu schwach dafür. Sie kann als Übergangsgouverneurin ja schlecht alle Firmen der Stadt zuschlagen. Dazu hat sie gar nicht die Befugnisse. Wir brauchen erst einen gewählten Gouverneur, bevor sich etwas grundlegend ändern kann. Und das kann dauern.“, beschied Philt, der in der Zeit, die er auf der Suche nach nützlichen Dingen in der City verbrachte, seine Ohren und seinen Verstand offenbar auf Hochtouren laufen ließ.
„Was meinst du, wer dafür in Frage kommt?“, fragte Greg, der wirklich beeindruckt davon war, wie sein Freund die politischen Zusammenhänge zu durchschauen schien.
„Es gibt ein paar Gerüchte, aber noch nichts Sicheres.“, antwortete Philt ausweichend. „Im Grunde ist es mir egal, wer es wird, und wie die meisten Leute kümmert es mich ehrlich gesagt wenig, ob er ein netter Mensch ist. Hauptsache, er stellt die City wieder auf die Füße.“, beschied er kategorisch.
Greg blieb abrupt stehen. „Das heißt, du bist auch der Meinung, ich hätte mich lieber von Rand ins Gefängnis stecken lassen sollen, damit die City weiter funktioniert?“, fragte er ungläubig.
Philt hielt ebenfalls inne und drehte sich zu ihm um. „Nein.“, sagte er entschieden. „Er hat es zu weit getrieben. Du hattest jedes Recht, dich zu wehren. Nur war es unglücklich, dass Rand offenbar alle Leute beseitigt hatte, die der City nützen konnten. Und jetzt sind wir auf der Suche nach einem neuen starken Mann.“
„Einem starken Mann?“, fragte Greg zweifelnd.
„Oder einer starken Frau.“, gab sich Philt konziliant. „Auf jeden Fall braucht diese City wieder eine funktionierende Regierung. Und die muss stark sein, um dieses ganze Chaos wieder zu beseitigen.“ Bei diesen Worten deutete er mit der rechten Hand auf die heruntergekommene Straße, die ein perfektes Sinnbild für den Zustand der gesamten Stadt abgab.
Greg schnaubte hörbar. „Weißt du, manchmal beneide ich Mav und die anderen. In ihrer kleinen Kolonie ist alles so überschaubar. Jeder kennt jeden, die Menschen helfen einander, keiner versucht, den anderen zu übervorteilen.“, sinnierte er verträumt vor sich hin.
Philt sah ihn scheel von der Seite her an. „Wenn es dir dort so viel besser gefallen hat, warum bist du dann nicht mit ihnen gegangen? Dich hält hier doch nichts. Du bist frei und kannst jederzeit zu deinen Freunden ziehen.“
Greg warf ihm einen bösen Blick zu. „Ich bin bei meinen Freunden. Mein Platz ist hier. Und so leicht ist es nicht. Ich bin ein Citymensch. Wenn ich sage, dass ich Mav beneide, dann meine ich damit auch die Tatsache, dass er dort hineingeboren wurde und es nicht anders kennt. Ich dagegen brauche diese verdammte Stadt zum Atmen. Ohne sie bin ich nicht ich selbst. Ich brauche Maschinen, Zahnräder, Öl und Rauch wie Wasser und Essen. Ich bin dazu verflucht, immer weiter nach dem Fortschritt zu streben. Es ist mein Schicksal, in dieser riesigen Kloake leben zu müssen. Und deins auch.“ Lachend deutete er mit dem Zeigefinger auf Philt.
Philt wollte gerade etwas erwidern, da spürte Greg einen dumpfen Schlag gegen den Hinterkopf. Aus dem Augenwinkel konnte er noch erkennen, wie Philt sich vor etwas wegduckte, dann traf ihn erneut etwas hartes, diesmal an der Schläfe. Greg taumelte leicht zur Seite und versuchte, sich zu orientieren. Eine Faust tauchte in seinem Gesichtsfeld auf. Es kam ihm unendlich langsam vor, wie sie vor seinen Augen allmählich größer wurde. Unfähig, sich zu bewegen, erwartete Greg mit einer irritierenden Mischung aus Neugier und Unglaube den Aufprall der Fingerknöchel auf sein Gesicht. Ein unangenehm dumpfes Knacken war das letzte, was er hörte, dann wurde es schwarz um ihn.
VI
„Seid Ihr denn von allen guten Geistern verlassen?“ Josh hatte sich sichtlich in Rage geredet und raufte sich die kurzen schwarzen Locken. Sein Blick wanderte wild zwischen dem zerknirscht am Feuer sitzenden Philt und Greg, dessen Kopf Suri vorsichtig auf ihren Schoß gebettet hatte, hin und her. „Geht ihr immer so sorglos in den nächtlichen Straßen spazieren wie feine Ladys, die sich in ihrem privaten Lustgarten ergehen?“
„Lass gut sein, Josh!“, versuchte Peanut ihn zu besänftigen. Sie wusch einen Stofffetzen in einem kleinen Eimer aus und betupfte vorsichtig einen Kratzer an Joshs Wange. „Sie haben schon genug Schmerzen.“
„Ja, und wenn du mich fragst, können die beiden von Glück sagen, dass sie überhaupt noch so etwas wie Schmerzen spüren können.“, ereiferte sich Josh. Die Kieferknochen unter seiner schwarzen Gesichtshaut mahlten wütend.
„Sie sind überfallen worden. Was hätten sie denn tun sollen?“, stand Suri ihrer Freundin und den beiden zusammengeschlagenen Jungen bei.
„Sie hätten besser aufpassen müssen! In jeder Ecke lauern diese Banden neuerdings. Und vor allem hätten sie nicht mehr im Dunkeln unterwegs sein sollen. Es ist einfach viel zu gefährlich.“, las Josh ihnen die Leviten.
„Ach, dann soll Greg also aufhören zu arbeiten, damit er rechtzeitig vor der Dämmerung zu Hause ist?“, warf Peanut mit ironischem Unterton ein.
„Der irre Uhrmacher macht doch ohnehin keinen Umsatz. Wer kauft denn in solchen Zeiten Uhren?“, wandte Josh ein. „Macht es da einen Unterschied, ob Greg etwas eher oder später aus der Werkstatt verschwindet?“
„Für den Uhrmacher offensichtlich.“, stellte Suri klar. „Und für Greg offenbar auch. Er blüht richtig auf, seit er wieder an irgendwelchen Apparaten herumschrauben kann.“ Sie nahm den kalten Lappen, der auf einer riesigen Beule auf Gregs Stirn gelegen hatte, und tauchte ihn in den Eimer, der neben Peanut stand.
„Sind sie schwer verletzt?“, fragte Josh zum wiederholten Male besorgt.
„Nein, nur ein paar Beulen.“, gab ihm Suri die selbe Antwort wie die Male zuvor. „Nur Gregs Nase könnte gebrochen sein. Unter all dem Draht um sein Auge herum ist das schwer zu erkennen.“
„Dafür sind die Wertmarken weg.“, brummte Greg, dem das Sprechen Schmerzen im Kiefer bereitete, undeutlich.
„Und das Essen, das ich den ganzen Tag gesammelt hatte.“, fügte Philt mit fast weinerlicher Stimme hinzu.
„Verdammt!“, fluchte Greg und schlug mit der flachen Hand auf seinen Oberschenkel.
„Fluchen hilft uns jetzt auch nicht weiter.“, mahnte Peanut. „Wir haben noch einen Kohlkopf, daraus können wir zumindest eine Suppe zaubern, oder Suri?“
„Und ob! Kohlsuppe ist meine Leibspeise.“, erwiderte Suri mit gespielt guter Laune.
„Eigentlich ist es ja alles meine Schuld.“, machte sich Josh selbst Vorwürfe. „Ich hätte Philt begleiten sollen.“
„Um was zu tun?“, hakte Suri neckisch nach. „Würdest du die Angreifer mit deinem Holzbein verprügeln?“ Sie deutete auf die Prothese mit den vielen Schrammen, die den linken Unterschenkel des jungen Mannes ersetzte.
„Zur Not auch das.“, knurrte Josh. Er kratzte unwirsch am Ende des Beinstumpfes herum.
„Juckt es immer noch so unangenehm?“, fragte Peanut, der die Handbewegung nicht entgangen war.
Josh stöhnte verstimmt. „Ja, und es ist in den letzten Tagen eher schlimmer geworden. Das verdammte Holz ist das letzte Mal vor mehr als zwei Jahren angepasst worden. Wenn ich einen Wunsch frei hätte,“, raunte er dem Feuer zu, „dann wäre es eine dieser ölhydraulisch-mechanischen Prothesen. Ich kannte mal einen Jungen, piekfeiner Schnösel, arrogant bis hier oben.“ Um seine Worte zu verdeutlichen, hob Josh seine Hand bis über die Nase. „Aber einen hydraulischen Unterarm hatte er – eine großartige Arbeit! Er konnte sogar die einzelnen Finger bewegen.“ In Joshs Augen trat ein träumerischer Glanz. „Was könnte ich mit solch einem Unterschenkel alles anstellen.“
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