Sie griff nach der Schale und wartete auf den Wasserkrug, der ihr immer als zweites gereicht wurde. „Warum habt ihr mich hier eingesperrt?“, fragte sie mit möglichst fester Stimme, doch sie spürte, wie sie innerlich bebte. Jeden Tag stellte sie die gleiche eine Frage und jeden Tag erhielt sie die gleiche Antwort. Ein kaltes Schweigen, das so viel schlimmer war als es jede hämische oder abschätzige Antwort gewesen wäre. Die Klappe schloss sich vor ihren Augen und wieder war sie allein mit ihren Gedanken, einer Schale Kartoffeln und Bohnen und einem Krug Wasser, der bis morgen Früh ihre einzige Flüssigkeitsquelle darstellen sollte.
Missmutig betrachtete sie noch eine Zeitlang die Tür, die zwischen ihr und der Außenwelt stand. Langsam wanderte ihr Blick nach unten zum Türschloss und verengte sich zu einem wütenden Starren. Es war so intensiv, dass sich Natty selbst wunderte, wieso nicht schon allein von diesem Blick das Metall schmolz und den Weg in die Freiheit öffnete. Doch wie nicht anders zu erwarten, geschah nichts und Natty ließ sich mutlos mit dem dampfenden Essen auf ihrem Strohsack nieder. Natürlich gab es jeden Tag Suppe, die man mit einem Löffel essen konnte. Einem sehr kleinen Löffel wohlgemerkt. Um mit diesem dünnen Ding die Fugen zwischen den Mauersteinen lösen zu können, würde sie hunderte Jahre brauchen, hatte Natty bereits am zweiten Tag ihrer Gefangenschaft erkannt. Und als improvisierte Waffe war er auch nicht zu gebrauchen. Ihre Entführer hatten offenbar an alles gedacht.
Natty schob sich einen Bissen zwischen die Zähne und wunderte sich augenblicklich. Das Essen war wesentlich stärker gewürzt, als üblich. Vielleicht war heute ein Feiertag, überlegte sie und kaute gründlich, um sich der Illusion hingeben zu können, zu völlern und so viel essen zu können, bis sie platze. Sie erkannte Muskat und Bohnenkraut unter den Gewürzen, dazu Safran und Kümmel. Und etwas unbestimmtes, scharfes, dass sie nicht genauer eingrenzen konnte. Nach einigen Löffeln griff sie beherzt nach dem Wasserkrug. Wer immer dieses Essen zubereitet hatte, er verstand sein Handwerk. Diesen Eintopf sollten sie in einem Pub servieren, ging es Natty durch den Kopf. Er machte so durstig, dass die Männer gleich eine zusätzliche Runde Ale bestellen würden. Sie hob den Krug und goss sich das Wasser in einem großzügigen Schwall in den Rachen. Das Brennen im Hals vermischte sich mit der belebenden Kühle des Wassers und hinterließ ein angenehmes Prickeln. Die scharfe Würze veranlasste sie entgegen aller Vernunft, gleich noch einen großen Schluck des erfrischenden Nasses zu nehmen. Das Wasser musste bis morgen reichen. Aber im Augenblick war das Brennen im Hals wichtiger als der mögliche Durst in der Nacht. Mit einem wohligen Seufzer setzte Natty den Krug ab und löffelte die Suppe leer. Noch einen letzten Zug zum Nachspülen konnte sie sich wirklich gönnen.
Natty blickte versonnen auf die Lichtstrahlen, die spielerisch tanzende Schatten an die Wände warfen. Sie fühlte sich wie verzaubert. Von innen breitete sich eine wohlige Wärme in ihrem ganzen Körper aus und ganz allmählich legte sich eine drückende Müdigkeit auf ihre Arme und Beine. Die Augenlider wurden ihr schwer und trotz der warnenden Stimme, die ganz tief in ihrem Inneren rief, dass es noch viel zu früh zum Schlafen sei, ließ sie sich auf ihren Strohsack gleiten und schlummerte selig ein.
XVIII
„Sie wollen es einfach nicht verstehen!“ Greg hieb missmutig mit der Faust auf den großen Tisch ein. „Was soll ich denn machen? Mav und ich verdanken den Weißen Löwen unser Leben. Und jetzt bitten sie mich um einen Gefallen, der mich nicht einmal in Gefahr bringt. Wenn ich Nathalie helfe, riskiere ich viel weniger, als sie damals für uns aufs Spiel gesetzt haben. Habe ich denn überhaupt eine andere Möglichkeit, als zu diesem Ansinnen ja zu sagen?“
Er blickte in das unergründliche Gesicht des alten Uhrmachers, der seelenruhig dagesessen und Gregs Bericht gelauscht hatte, ohne ihn einmal zu unterbrechen. Nun erhob sich der alte Mann bedächtig und ging zu dem kleinen Herd hinüber, auf dem Wasser in einem Topf vor sich hin kochte. Vorsichtig nahm er den Topf mit einem Lappen auf und goss das heiße Wasser in die mit blauen Pflanzenranken verzierte Porzellankanne, neben seinem Werkzeug und den Uhren einer der wenigen Gegenstände in seinen Räumen, die wirklich von Wert waren. Bedächtig zerrieb er einige Teeblätter und streute sie in die heiße Flüssigkeit. Dann klaubte er zwei Metallbecher von einem Bord, nahm die Kanne und stellte alles geräuschvoll auf den Tisch.
„Es ist ja nicht so, dass ich ihre Sorgen nicht verstehen würde. Natürlich würde es bedeuten, dass die Gouverneurin nicht mehr alle Entscheidungen völlig unabhängig und allein fällen kann. Aber kann sie das denn jetzt? Die Reichen und Mächtigen in dieser City haben doch ohnehin einen beträchtlichen Einfluss auf die Politik, warum sollten die einfachen Leute da außen vor bleiben? Das ist doch ungerecht!“ Wieder schaute Greg zu dem Uhrmacher auf, doch der musterte ihn tief in Gedanken versunken weiterhin schweigsam. „Und wenn die Gouverneurin erst einmal auf meinen Rat hört, könnte ich ihr doch auch die Wünsche von Josh und Philt und Suri und Peanut und Frog mitteilen.“ Greg spürte bei diesem Gedanken sein Herz bis in seinen Hals hinein schlagen. Neue Energie durchströmte ihn. Enthusiastisch fuhr er fort: „Wir könnten in der ganzen Stadt Vorschläge sammeln und ich trage sie dann der Gouverneurin vor. So wäre es möglich, die City von innen her zu einem besseren Ort zu machen, ohne dass es Streit zwischen den Armen und Reichen darüber geben muss.“ Greg war regelrecht verzückt von der neu in ihm aufkeimenden Idee.
Um die Mundwinkel des alten Uhrmachers zuckte die Andeutung eines Lächelns. Mühsam erhob er sich erneut und schlurfte zu Molly, seiner riesigen Standuhr. Behutsam öffnete er den Uhrkasten und tippte einen verborgenen Mechanismus an. Dann kam er zurück zum Tisch, setzte den großen Zylinder ab und legte ihn neben seine Teetasse.
Greg hatte in der kurzen Pause von dem heißen Gebräu gekostet. Es schmeckte grässlich, nach bitteren Kräutern und Medizin, aber es entfaltete eine wohltuende Wärme in seinem Innern, so dass er den geschmacklichen Abscheu überwand und noch einen beherzten Schluck nahm. Über den Rand der Tasse hinweg schaute er Arthur Tudor an. Er hatte keine Ahnung, mit wem er es hier eigentlich zu tun hatte. Arthur Tudor war ein großartiger Uhrmacher, hatte viele kreative Ideen, die er fast immer auch in die Tat umzusetzen in der Lage war, er liebte Ordnung und Pünktlichkeit und genoss die Tage, an denen kein einziger Kunde die betriebsame Geschäftigkeit in der Werkstatt störte. Aber viel mehr wusste Greg nicht über ihn. Nichts über seine Familie, woher er kam, ob er Freunde hatte oder was ihn bewogen hatte, den Beruf des Uhrmachers auszuüben. Arthur Tudor redete nur selten und dann auch nur das Allernötigste.
Umso erstaunter war Greg, als der alte Uhrmacher plötzlich den Mund öffnete und zu reden anhob: „Assimov kennt sich aus. Er ist der Beste. Gab nie einen besseren, das kannst du glauben! Was Assimov nicht reparieren kann, bekommt keiner hin. Viele haben die Gabe, aber Assimov weiß, wie man sie einsetzt. Oh ja!“
Greg verstand kein Wort, aber er wusste, es war so selten, den Uhrmacher in seinen Erinnerungen schwelgen zu hören, dass er keinen Drang verspürte, diesen ungewohnten Ausbruch von Redseligkeit mit kleinlichen Fragen zu unterbrechen.
„Weißt du, Junge, es kommt nicht so sehr darauf an, woher du kommst, sondern vor allem darauf, wohin du willst. Und wenn das, was von dir verlangt wird, dir später schaden wird, musst du gut überlegen, ob es das wert ist. Assimov war auch so wie du. Immer ehrlich sein, immer sein Wort halten, nie etwas Unrechtes tun.“ Der alte Uhrmacher kicherte irre. „Und was hat es ihm genutzt? In den Wäldern haust er. Kann sich in keiner City mehr sehen lassen. Weil diejenigen, die es mit Ehrlichkeit und Versprechen nicht so genau nehmen, ihm alles weggenommen und ihn verstoßen haben.“ Nachdenklich schüttelte Arthur Tudor den Kopf. „Ein komischer Kauz, dieser Assimov.“, sagte er und bedachte Greg mit einem Blick, der dem Jungen beinahe das Blut in den Adern gefrieren ließ. Aus dem Mund des verrückten Uhrmachers klang diese Beurteilung eines anderen Menschen für Greg sehr eigenartig. Aber er hütete sich, das dem alten Mann gegenüber zu erwähnen.
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