Das Haus war selbst für den wohlhabenden Stadtteil mit seinen Bankiersvillen und Repräsentationsgebäuden, in dem es stand, ein Schmuckstück. Das Dach war, soweit Bobby Lane das sehen konnte, makellos gedeckt, die Fassade war erst vor kurzem weiß getüncht worden und mit vielen Zierleisten geschmackvoll gestaltet. Hinter den Fenstern konnte Bobby Kronleuchter und Schränke aus teuren Hölzern erahnen. Was, um alles in der Welt, suchten drei so windige Gestalten in diesem Gemäuer?
Der Sergeant ließ seinen Blick schweifen, behielt dabei aber die Eingangstür des Hauses weiter im Auge. Hin und wieder betraten ein korrekt gekleideter Beamter oder eine elegante Dame das Haus. Ähnlich betuchte Herrschaften verließen das Gebäude, doch von den drei Jungen oder ähnlichen Gesellen war nichts zu sehen. Möglich, dass sie durch eine Hintertür gegangen waren, vielleicht hatte sich Bobby doch nicht so geschickt bei seiner Verfolgung angestellt, wie er gedacht hatte, und jetzt saßen sie auf irgend einem Dachvorsprung und machten sich über den Polizisten lustig, der so ratlos auf der Straße herumstand? Wie dem auch sei, Bobby beschloss, die Beschattung vorerst abzubrechen. Er notierte sich in seinem inneren Notizbuch das Haus und die wenigen Anhaltspunkte, die er für die Unterbrechung seines Streifenganges heranziehen konnte, löste sich wie selbstverständlich aus dem Schatten und verschmolz mit den Menschen, die über die Bürgersteige liefen. Als er erneut am Rathaus vorbeikam, fiel ihm ein Arzt auf, der in großer Eile das Gebäude verließ. Keine Frage – diese Begebenheit würde auf jeden Fall Eingang in seinen abendlichen Bericht finden. Und er würde von heute noch eine Spur wachsamer auf diese eigenartige Bande von Jugendlichen achten, die alle die gleiche Uniform trugen und von Tag zu Tag ungehobelter und respektloser auftraten. Sein Instinkt sagte ihm, dass hier etwas nicht stimmte, und sein Instinkt hatte ihn bisher nur selten im Stich gelassen.
XV
„Greg! Wie schön, dich zu sehen!“, rief eine Frauenstimme. Greg stellten sich die Nackenhaare auf. Diese Stimme würde er überall auf der Welt wiedererkennen. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es eine junge schwarzhaarige Frau mit stahlblauen Augen war. Dennoch sprang er vor Schreck von dem bequemen Sessel auf, in dem man ihn hatte warten lassen und schoss zu ihr herum. „Nathalie?“ Er kam nicht umhin, das rote Miederkleid, das ihm bereits bei ihrer letzten Begegnung den Atem geraubt hatte, zu bewundern.
„Leibhaftig.“, gab sie verschmitzt zurück und wedelte ungeduldig mit einer Hand. „Setz dich doch wieder! Du weißt, dass mir Förmlichkeiten nichts bedeuten.“
Gehorsam ließ sich Greg zurück in den Sessel fallen. Nathalie nahm ihm gegenüber Platz und klatschte zweimal. Kurz darauf kam einer der Jungen, die Greg hierher geführt hatten, herbeigelaufen und überreichte Nathalie ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. „Auch einen Whiskey?“, fragte Nathalie Greg in gönnerhaftem Ton.
So faszinierend die Vorstellung war, mit dieser Frau in diesem geschmackvoll eingerichteten Salon einen edlen Tropfen zu trinken, war diese Liebenswürdigkeit Greg doch zutiefst suspekt. Nicht nur, dass er Nathalie hunderte Meilen entfernt in der Terapolis wähnte, auch die Umstände, unter denen er hierher gebracht worden war, waren alles andere als dazu angetan, ihn in die Stimmung für ein Plauderstündchen zu versetzen. Er überging Nathalies Ansinnen und sprach direkt die Frage aus, die ihn seit der Begegnung mit den Jungen in den Uniformen der Weißen Löwen umtrieb: „Wieso hast du mich herbringen lassen?“
Nathalie schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Warum so zugeknöpft, Greg?“, fragte sie verschnupft. „Ich kenne nicht viele Leute in dieser City und wollte gern ein vertrautes Gesicht sehen.“
„Und darum lauern mir deine Spießgesellen in einer Gasse auf und umringen mich wie ein Wolfsrudel, damit das Opfer schon vor dem tödlichen Angriff weiß, dass eine Flucht aussichtslos ist.“, entgegnete Greg mit sarkastischem Tonfall.
Nathalie warf einen leicht pikierten Blick auf die Tür, hinter der vermutlich mehrere Jungen bereitstanden, ihrer Anführerin zu Hilfe zu eilen, sollte sie dieser bedürfen. „Sie müssen noch viel lernen.“, seufzte Nathalie theatralisch. „Es ist nicht leicht, in so kurzer Zeit so schnell zu expandieren. Du glaubst gar nicht, wie schwer es heutzutage ist, gutes Personal aufzutreiben.“
„Ich kann es mir bildlich vorstellen.“, erwiderte Greg ungerührt. „Mein Mitgefühl hält sich in Grenzen.“
„Wie kommt es eigentlich, dass du dich so gut mit Wölfen auskennst?“, wechselte Nathalie unvermittelt das Thema. „Ich meine, ein Stadtjunge wie du...“
„Gator hat mir von ihnen erzählt. Sie haben ihn sehr fasziniert, die Wölfe.“, setzte Greg sie ins Bild.
„Gator?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn, winkte dann aber ab, bevor Greg zu einer Antwort ansetzen konnte. „Lassen wir es bei diesem Austausch der Höflichkeiten bewenden.“, sagte sie gestelzt.
Aha, endlich kommen wir zum Kern der Sache, dachte sich Greg, schwieg aber wohlweislich und betrachtete lieber eingehend den Kronleuchter, der von der mit Stuck verzierten Decke über ihren Köpfen herabhing.
„Ich brauche deine Hilfe.“, kam Nathalie unumwunden auf ihr Anliegen zu sprechen.
Greg sah sie fragend an.
„Du hast es selbst gesehen. Viele der neuen Mitglieder der Weißen Löwen sind nicht die hellsten Köpfe, und ich kann doch nicht all meine fähigen Jungen in die unterschiedlichsten Cities aussenden, nur um den Neulingen das Einmaleins unseres Geschäfts zu erklären.“ Greg fragte sich bei diesen Worten mit einem Schaudern, wie weit ihr Netzwerk inzwischen ausgedehnt sein musste. „Ich hätte ja bald niemanden mehr, der in der Terapolis, dem Zentrum unserer Bewegung, für Ordnung sorgen würde. Dabei brauche ich meine Jungs dort mehr denn je.“
Sie machte eine Kunstpause, wohl um Greg die Gelegenheit zu geben, ihr eine Frage zu stellen, aber er hielt wohlweislich den Mund und ließ Nathalie nicht aus den Augen. Soweit er aus ihren Ausführungen schließen konnte, hatte sich die Organisation der Weißen Löwen auch auf andere Cities ausgedehnt, dabei hatte es aber Schwierigkeiten gegeben. Er wusste nicht, was sich Nathalie von dieser Ausdehnung versprach, war sich aber nicht sicher, ob er den Versuch gut finden sollte.
„Hier bei euch,“, fuhr die junge Frau fort. „Ist es besonders schwierig. Ihr habt eine sehr raue Straßenkultur, das muss ich schon sagen.“ Sollte dieser Satz ein Kompliment sein, verfehlte er bei Greg seine Wirkung. „Wir haben einige ganz üble Schlägertrupps aufgenommen, ohne zu wissen, was wir uns da einhandeln. Das hilft dem Ansehen unserer Sache natürlich nicht gerade. Dabei ist es doch genau das, was wir wollen. Wir wollen den Menschen helfen, ein besseres Leben zu erringen. Nicht nur Waisenkinder haben es verdient, dass sie mehr vom Kuchen abbekommen. Alle sollten an dem wirtschaftlichen Erfolg der Fabriken, in denen sie arbeiten, teilhaben.“
Sie ließ die Worte in Gregs Bewusstsein sinken und beobachtete ihn dabei über den Rand des Whiskeyglases hinweg.
Greg musste zugeben, dass auch er sich schon des Öfteren gewünscht hatte, bei seiner Arbeit mehr zu verdienen. Und dass er vor Neid auf die reichen Industriellen in ihren prunkvollen Villen zerfressen wurde. Auf Nathalies Gesicht erschien ein leichtes Lächeln. Hatte sie seine Gedanken erraten.
„Wir brauchen deine Hilfe, Greg.“, hakte sie offen und unverblümt nach.
Greg blickte sie unverwandt an und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und was ist, wenn ich darauf keine Lust habe?“, fragte er aufmüpfig.
Nathalie starrte ihn einen Augenblick ungerührt an, dann stahl sich ein verschmitztes Lächeln auf ihre Lippen. „Das spielt überhaupt keine Rolle, Greg. Du hast mir dein Wort gegeben, dass du es tun wirst, und du wirst dein Wort nicht brechen.“ Ihr Gesicht war immer noch die Freundlichkeit selbst, aber der Tonfall ihrer Stimme machte klar, dass sie keinen Widerspruch duldete.
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