1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Die Stimmungen des Meeres blieben das Einzige, was Abdoul während der mehrtägigen Bettruhe studieren konnte. Stundenlang starrte er auf das Wasser und schwebte zwischen Traum und Wirklichkeit. Mit der Zeit tauchte er durch den Spiegel in eine ihm fremde Welt ein.
In seiner Fantasie bevölkerte er die See nicht nur mit den verheißungsvollen Wasserfrauen und den Fischen, die er schon kannte. Aus dem Nichts hervorgezauberte Medusen, Muscheln, Algen, Krebse, Tintenfische gesellten sich dazu. Von unten stellte er sich vor, wie die Fischerboote auf der Wasseroberfläche tanzten. Manchmal verhedderte er sich in einem der Netze, das von oben herabsank. Aber er konnte sich jedes Mal wieder befreien.
Am Mittag drangen die Sonnenstrahlen tief hinab und Quallen schwebten Feen gleich an ihm vorbei. Die Muscheln am Grund hatten ihren Mund weit geöffnet und mehr als einmal fand er große Perlen, die im letzten kupfernen Abendlicht irisierend leuchteten.
In der Nacht bemerkte er weit unter sich im tiefen Schwarz des Ozeans gruselige Augen, die emporblickten. Große, grün flackernde Augen, kleine rötlich schimmernde oder bläuliche, die verstohlen blinkten. Es waren die Augen der Kraken und anderer großer und kleiner Seeungeheuer. Sternen gleich zogen sie ihre Bahn und glitzerten bis in den frühen Morgen hinein. Erst in der Dämmerung erschienen alle Fische grau und starr, wie Zinnsoldaten, bevor sie angemalt wurden.
Ḥusām nahm sich für den Patienten so viel Zeit, wie er konnte. Am meisten interessierten den kleinen Palästinenser das Meer und seine Bewohner. Darüber konnte er nicht genug erfahren. Selbst sein Großvater wusste nicht so viel über das Meeresgetier zu berichten wie der Doktor. Etwa am dritten Tag brachte Ḥusām etwas Besonderes mit: »Das habe ich in der Schiffsbibliothek gefunden. Es ist ein alter Almanach für Sportsegler im Mittelmeer. Du kannst ihn haben, der Kapitän braucht ihn nicht mehr.«
Beim Durchblättern des schweren Buches wurden seine Augen größer und größer. Im Almanach war alles Mögliche über Segelschiffe und das Segeln zu finden. Auch gab es jede Menge Karten und riesige, unverständliche Tabellen. Am meisten faszinierten ihn gleichwohl die zahlreichen Abbildungen und Fotografien der Meeresbewohner. Sie waren wunderbarer als die Kreaturen aus seinen Tagträumereien. Hunderte von Fischarten, Säugetieren, Vögeln, Schnecken, Algen und Meerespflanzen waren aufgelistet.
»Könnte ich das doch nur lesen«, klagte er eines Abends.
»Nun, du kannst die Sprache ja lernen.«
»Kennst du sie?«
»Ja, ich habe sie während dem Studium gelernt. Es ist englisch und die Namen der Tiere und Pflanzen sind zudem auf Lateinisch geschrieben.«
Am darauffolgenden Tag durfte Abdoul aufstehen. Er freute sich sehr und erkundete die Krankenstation. Ḥusām zeigte ihm einmal auch den Operationssaal und erklärte die vielen schauerlichen Instrumente. Am liebsten hätte er das ganze Schiff inspiziert, aber das war nicht gestattet. So ging er wenn immer möglich auf das angrenzende Achterdeck. Dort saß oder lag er stundenlang mit seinem Almanach am Boden herum.
Von Jada, die im Gegensatz zu Ḥusām sehr verschwiegen war, erhielt er ein altes Krankenjournal und Farbstifte. Auf den leeren Rückseiten zeichnete Abdoul ein Tier nach dem anderen ab. Auch malte er Wasserfrauen, wie sie mit den Fischen Schabernack trieben und diese in die Fischernetze jagten. Sorgfältig kopierte er auch die lateinischen Namen. Wenn er wusste, wie der Fisch hieß, fügte er den Namen in Arabisch hinzu, sonst verlieh er ihm einen wohlklingenden Fantasienamen.
Ḥusām war beeindruckt und ein paarmal nahm er sich die Zeit, über besonders kniffliges Meeresgetier und Namen zu diskutieren. Nur etwas konnten sie nicht herausfinden, was für eine Muschel Abdoul um den Hals trug. Sie war im Almanach nicht aufzufinden. Auch in den anderen Büchern an Bord war kein vergleichbares Exemplar beschrieben.
»Vielleicht ist es eine ganz seltene Art oder ein Einzelgänger, der komplett anders aussieht als seine Eltern.«
Die Idee, dass die Muschel ein Einzelgänger sein könnte, gefiel dem Knaben. Sie musste etwas mit ihm selber zu tun haben. Die See und seine Lebewesen zogen ihn dermaßen in ihren Bann, dass alles um ihn herum nur verschwommen durchdrang. Der Bauch war nicht mehr so wichtig, er heilte so oder so von alleine. Nur nachts besuchten ihn manchmal dunkle Gedanken und Erinnerungen an Qadim und die Koranschule. Selten genug sah er die Raketen am Strand von Gan Or einschlagen und vermisste seine Familie.
Er fühlte sich auf dem Schiff bald mehr geborgen als sonst irgendwo. Er wunderte sich kaum, weshalb er außer Ḥusām und Jada niemanden antraf. Auch die israelischen Patrouillenboote, die regelmäßig und nahe an der Malta III vorbeizogen, erregten seine Aufmerksamkeit nicht. Und so wurde er von Tag zu Tag gesünder.
Eines Abends jedoch wurde er aus diesem Märchen geweckt: »Ich denke, du kannst nächste Woche zurück nach Gaza. Dein Bauch ist gesund.«
»Muss ich wirklich zurück?«
»Ja, du kannst nicht auf dem Schiff bleiben.« Ḥusām bemerkte Abdouls langes Gesicht: »Freust du dich denn gar nicht?«
»Worauf? Wohin soll ich gehen?«
»Wir haben doch schon darüber gesprochen, dass du in der Siedlung bleiben kannst. Haīkal wird sich um dich kümmern und du kannst mir im Lager helfen.«
»Ja – nur …«
»Was?«
Ḥusām wusste genau, worauf der Knabe hinauswollte. Er hatte ihn derweil in sein Herz geschlossen. Ohne eine Familie brauchte er unbedingt ein Zuhause, das ihm Ḥusām so nicht geben konnte. »Du wirst in al-Qubāʾ neue Freunde finden. Du bist ein großer Junge und weißt dir zu helfen.«
Beide schauten schweigend dem orange- und kupferfarbigen Wiegenlied der Abenddämmerung auf dem Wasser zu.
Abdoul nahm all seinen Mut zusammen: »Du hast doch gesagt, dass es bald eine Schule geben wird … kann ich englisch und die andere Sprache lernen, in der die Namen der Fische im Almanach geschrieben sind?«
»Wozu möchtest du das denn lernen?«
»Ich will alle Tiere im Meer kennen und dann werde ich später ein großer Fischer.«
»Mmmh, ich spreche mit dem Schulleiter darüber.«
»Versprochen?«
»Versprochen!«
Ḥusām hielt ihm die Hand hin, in die er freudig einschlug.
Drei Tage später war es soweit. In einem Beiboot fuhren sie in Richtung Küste. Abdoul hatte sich ganz vorne hingesetzt. Wie bei Großvaters Ausfahrten lehnte er sich über den Bug und guckte, wie sich das Schiff seinen Weg durch das Wasser pflügte. Die Muschel, die um seinen Hals hing, rutschte wie von selbst aus dem Hemd und wurde nun von der Schnur wie an einer Fangleine über das Wasser gezogen.
Als er nach einiger Zeit zum großen Schiff zurückblickte, sah er auf dem obersten Deck ein Licht aufblitzen. Er meinte, einen Mann zu erkennen, der ihnen durch ein Fernglas nachschaute. Ein komisches Gefühl beschlich ihn. Während der ganzen Zeit auf dem Schiff hatte er nur den Doktor und die Krankenschwester kennen gelernt. Zwar huschte ab und zu der Schatten einer Person über das hintere Deck, wo die Krankenstation lag. Manchmal hatte er weiter vorne auf dem Schiff auch einen Matrosen ausmachen können, wie er an die Reling lehnte. Aber nie war ihm jemand nahe genug gekommen, um ihn anzusprechen. Umso merkwürdiger war der Mann, der ihnen nachspähte.
Ḥusām sah ihn prüfend an: »Es ist nicht so, dass auf dem Schiff komische Dinge vor sich gehen. Das heißt, es ist schon so, aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet – ich meine, es ist gut so.« Nach einer Weile brummelte er: »Es wird gut werden. Dafür sind wir da.«
Abdoul verstand nicht, was er meinte, und wollte eben nachfragen, als dieser weiterfuhr: »Wir sind gleich am Strand. Dort kannst du Haīkal helfen, das Boot zu entladen, und anschließend mit ihm nach al-Qubāʾ gehen. Ich gehe zur Visite ins Lager.«
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