Tatsächlich gestaltete sich die Suche nach der passenden Türe schwieriger als gedacht. Das begann damit, dass sie im Gang nach der Eingangstüre keine Treppe fanden, sondern nur eine Reihe geschlossener Türen. Abarron konnte sich jedoch rasch orientieren. Im Vorfeld hatten sie die Räume im Erdgeschoss soweit wie möglich von außen ausgekundschaftet. Sie wussten also, wo die Küche mit angrenzendem Essraum und gegenüberliegend der Vorratsraum lag. An den Essraum grenzten zwei Aufenthaltsräume. Das ergab insgesamt vier Räume auf der Südseite, rechts vom Eingang. Die entsprechenden vier Türen waren leicht zu erkennen.
Weiter wussten sie, dass auf der Nordseite neben dem Vorratsraum ein Waschraum, Toiletten und zwei Schlafzimmer lagen. Das Treppenhaus besaß offensichtlich kein eigenes Fenster, sonst hätten sie es sehen müssen. Folglich gab es nur einen Ort, wo genügend Platz für eine Treppe sein konnte: zwischen dem Vorratsraum und dem Waschraum. Das hieß also, die zweite Türe links. Alle diese Überlegungen spielten sich innert Sekundenbruchteilen in seinem Kopf ab.
David war am Eingang stehen geblieben. Der Vorstellung, sie könnten fälschlicherweise eine Tür zu einem Schlafzimmer öffnen, beunruhigte ihn. Nicht auszudenken, was dann passierte. Gerade wollte er sich zu Abarron wenden, als dieser ohne zu zögern auf die zweite Türe links zulief. Er hatte die Türe bereits geöffnet und begann, die ersten Stufen hochzusteigen, als sie hörten, dass sich im Gang eine Türe öffnete.
Wie angewurzelt blieb David stehen: Es ist vorbei!
Abarron jedoch packte ihn geistesgewärtig am Ärmel und zog ihn zu sich ins Treppenhaus. Das Licht im Flur ging an. Ohne die Türe zu schließen, bugsierte er David möglichst geräuschlos zum ersten Podest hoch. Schon hörten sie den Lehrer den Flur entlangschlurfen. Wenn er auf die Toilette musste, würde er nicht an der Türe zum Treppenhaus vorbeikommen. Aber der Lehrer ging nicht auf die Toilette, sondern blieb vor der offenen Türe stehen. Hatte er sie bemerkt? Erst jetzt wurde auch Abarron kribblig. Sie schmiegten sich so gut sie konnten an die Wand.
Nach Sekunden des Bangens wurde die Türe unten geschlossen und die Treppe versank in absoluter Dunkelheit. Danach wurde die Vorratskammer geöffnet, offenbar war der Lehrer auf der Suche nach Naschereien. Die beiden Eindringlinge bewegten sich erst wieder, als sie sicher waren, dass der Lehrer in seinen Wohnraum zurückgekehrt war. Zum Glück, denn die zweitletzte Holzstufe knarrte so laut, dass sie erneut wie zu Salzsäulen erstarrt verharrten. Aber nichts regte sich im Haus.
Auf dem oberen Gang blieben sie vor der Türe zum Arabischlehrer stehen. David kramte Pinsel und Farbe aus seinen Taschen hervor. Zum Zeichen, dass sie bereit waren, nickten sie sich gegenseitig zu. Mit schweißnassen Händen griff David zur Klinke, drückte sie und wollte die Türe aufstoßen. Aber sie ging nicht auf.
»So ein – «
»Psst!«
»Was sollen wir tun? Ich schreibe den Spruch an die Türe …«
»Nein, warte, das wäre ja nach allem nur die halbe Miete. Ich werde die Türe öffnen.«
Ohne sich umdrehen zu müssen, sah er David mit offenem Mund dastehen. Aber für Erklärungen blieb keine Zeit. Er zog einen starken, vorne gekrümmten und abgeflachten Draht aus der Hosentasche. Die Kunst lag darin, den Schlüssel, wenn er auf der Innenseite steckte, nicht aus dem Schloss zu schieben. Lautlos machte er sich mit dem Dietrich zu schaffen. Das Handwerk hatte er in den endlosen Kellern der Plattenbauten, wo er während den Semesterferien bei den Großeltern wohnte, aus Langeweile zur Genüge geübt. Mit einem leisen ›Klack‹ schnappte die Türe auf.
Durch den Spalt hörten sie den Arabischlehrer regelmäßig atmen, er schlief fest. Sonst blieb es mäuschenstill. Vorsichtig schob David die Türe auf und begann, sich in Richtung des Schnaufens vorwärtszutasten. Abarron blieb draußen auf dem Gang und hielt Wache. Zwei-, dreimal hörte er ein leises Stolpern von David, aber nichts weckte den Lehrer auf. Der Mond brachte nur wenig Licht in das Zimmer. Gerade genug, um ans Werk zu gehen. Das sanfte Streichen des Pinsels an der Wand war auf dem Flur zu hören.
Wenn ihn bloß der stechende Geruch der Farbe nicht weckt.
Al-Jabiri erwachte nicht. Als David aus dem Zimmer geschlichen war, wollte er möglichst schnell das Haus verlassen.
Abarron hielt ihn zurück: »Ich verschließe die Tür wieder.«
»Muss das sein?«
Alles ging gut und kurz darauf standen sie vor dem Lehrertrakt und drehten den Schlüssel. Draußen hatte sich nichts verändert und Jachin winkte den beiden von der Gebäudeecke her zu.
»Was machen wir mit Samuel?«, fragte David, nachdem sie tief durchgeatmet hatten.
»Ich bringe den Schlüssel zurück und werde morgen früh den Hauswart vor dem Büro abfangen. Sobald er das Büro aufgeschlossen hat, bitte ich ihn um WC-Papier, welches im Schrank gegenüber unter der Treppe lagert. In dieser Zeit sollte Samuel unbemerkt aus dem Büro entwischen können.«
David war einmal mehr erstaunt, wie flink Abarron in diesen Sachen war. Er selber war vierzehn, Abarron neun Jahre alt. Kurze Zeit später waren sie in ihren Schlafräumen zurück und lagen im Bett.
Im obersten Stock des Wohngebäudes legte sich der Prorektor gleichermaßen zur Ruhe.
Der Arabischlehrer erschien am kommenden Morgen nicht zum Unterricht. Er war ziemlich durcheinander. Ihn beunruhigte weniger die Schmiererei an der Wand. Vielmehr bekümmerte ihn die Tatsache, dass jemand unbemerkt in sein Zimmer hatte eindringen können, während er schlief. Als Jugendlicher hatte er zu Hause in Jerusalem schon einmal miterleben müssen, was es hieß, in den eigenen vier Wänden nicht sicher zu sein. Als der israelische Geheimdienst sie mitten in der Nacht aus der Wohnung holte. Niemand hatte das Eindringen der Agenten in das Schlafzimmer bemerkt. Auf einmal standen sie neben dem Bett und erst das klickende Entschärfen der Waffen riss ihn, seine Eltern und die Geschwister aus dem Schlaf.
Vater und Mutter, beides arabischstämmige Israeli, kehrten nach drei Tagen nach Hause zurück. Sie waren nicht mehr die Gleichen. Von diesen drei Tagen erzählten sie nie etwas. Nur eines machten sie ihren Kindern immer wieder klar: Dass arabische Israeli auf keinen Fall Staatsbürger, sondern höchstens geduldete Fremde seien.
›Israel ist unser Land und die Araber sind unsere Hunde‹ stand in blutroten arabischen Buchstaben auf der Mauer über seinem Bett.
Der Maschendrahtzaun war einfach da. Aus dem Nichts pflanzte er sich vor Abarron auf. Bei jedem Schwung mit der Schaukel versuchte er, ihn mit den Zehenspitzen zu erreichen. Wenn es ihm nur gelänge, ihn mit den Zehen zu berühren. Dann würde er wie eine Seifenblase zerplatzen und verschwinden. Und nichts wäre mehr zwischen ihm und ihnen. Aber er bemühte sich vergeblich. Schlimmer noch, mit dem Zurückschwingen der Schaukel schwang auch das Drahtgitter zurück.
Vor und zurück – vor und zurück.
Er könnte seine Hand ausstrecken, aber dazu müsste er loslassen und würde von der Schaukel fallen. Auch wenn er hinten am höchsten war, befand sich der Draht nur einen Fingerbreit vor seiner Stirne. Selbst ein abruptes Kopfnicken nach vorne brachte ihn dem Gitter nicht näher. Dieses wich von ihm, sowie er ihm nachschwang. Dabei würde es sich … auflösen, wenn er es nur würde berühren können. Dessen war er sich ganz sicher.
Vor und zurück – vor und zurück.
Abarron konnte das Schaukeln nicht stoppen und hatte riesige Angst, herunterzufallen. Unter ihm lag ein großer Krater. Von dessen Grund starrt eine Totenfratze mit verbrannten Hautfetzen und flammenden Augen unablässig herauf. Nur darauf wartend, dass der Junge die beiden Ketten losließ, um nach dem Zaun zu greifen. Zaun und Schädel hielten den Jungen im Schach. Gelänge es ihm nur, mit einem Schwung von der Schaukel zu springen und vor dem großen Loch auf den Boden zu landen.
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