Abarrons fing an zu verstehen.
Weisz hatte sich in dem Jungen nicht getäuscht. Sein Gift begann zu wirken. Der Prorektor des Internats war in Tat und Wahrheit ein aktiver Colonel der israelischen Armee. In jener Nacht hatte er von seinem Schlafzimmerfenster aus die Jungen auf dem Gelände beobachtet. Durch das Fernglas mit integriertem Restlichtverstärker erhielt er ein recht klares Bild davon, was vor sich ging. Normalerweise hätte er eingegriffen, als er hörte, wie sich die Haupttüre öffnete. Nachdem er jedoch Abarron erkannt hatte, ließ er den Dingen ihren Lauf.
Die Rekrutierung von Nachwuchskräften war die Aufgabe, von der im Internat niemand etwas wissen musste. Der Colonel war der Sohn von General Baruch Weisz, zusammen mit General Kemuel Markowitz der Begründer der israelischen Mauer-Strategie. Und er kannte sich mit Menschen extrem gut aus. Seine Schüler brachten es jeweils weit in der militärischen Organisation dieses Landes.
Die Sommerferien verbrachte Abarron wie gewöhnlich bei den Großeltern. Er mochte sie, aber er suchte keine Geborgenheit bei ihnen. Schweigsamer und abweisender als sonst verkroch er sich lieber irgendwo in der eintönigen Siedlung oder hinter seinen Büchern, anstatt mit den anderen Kindern draußen zu spielen. Mit der Zeit dämmerte ihm, was der Prorektor gemeint hatte. Und er wusste, dass er sich längst schon entschieden hatte: Für den Hass und gegen die Araber. Das andere, was sich tief in seinem Inneren regte, verlor mehr und mehr an Kraft. Sein Gewissen gaukelte ihm vor, dass diese Entscheidung nicht gut war – oder mindestens nicht so einfach. Er verdrängte alle Gefühle, so gut es ging. Und es gelang ihm, je älter er wurde, desto besser.
Die Großeltern bemerkten sehr wohl, wie sich der Junge hinter einer undurchdringbaren Mauer zurückzog. Sie nahmen auch die wachsende Kälte in ihm wahr. Ohne zu verstehen, weshalb, erhofften sie sich insgeheim, dass ihr Enkel eines Tages Gerechtigkeit in das Unrecht jenes Frühlingsmorgens vor vier Jahren bringen würde.
Eine außergewöhnliche Hitzewelle hielt Südeuropa seit Wochen im Griff. Die zahlreichen Mandelbäume auf Trois-Ruisselets drohten zu verdorren. Charles nahm keine Kenntnis davon.
»Das musst du sehen – «, rief ihm Ted von der Verandatüre aus zu, » – schnell, Šarīf hat im Gazastreifen gewonnen.«
Charles erhob sich vom Gartentisch, wo er in Dokumente vertieft war, und eilte in das Kartenzimmer. Im Fernsehen wurde live aus Gaza berichtet.
»… unglaublich, Massen von Anhängern der neuen palästinensischen Brüderpartei, der gemäßigten Fatḥ und des liberalen Ḥamās-Flügels haben sich auf dem Platz vor dem Regierungsgebäude versammelt und jubeln Nadim Šarīf zu. Umringt von bewaffneten Sicherheitsleuten steht er auf der Rednerbühne. Die Stadt gleicht einem grün-gelben Flaggenmeer, Freudenschüsse sind überall zu hören.
Zusammen mit der Fatḥ und unterstützt von den liberalen Kräften der Autonomiebehörde in Gaza hat Šarīf mit seiner Brüderpartei im ersten Wahlgang 55,6 Prozent der Wählerstimmen im Gazastreifen gewonnen. Obwohl von Israel, den USA und der EU ständig unter Druck gesetzt, vermochte sich der moderate Flügel der ehemaligen Muslimbrüder zu halten – aber die vor fünf Jahren von Šarīf ins Leben gerufene Brüderpartei kam nicht vorwärts. Und jetzt das, wie aus heiterem Himmel scheint Šarīf die Spaltung der Ḥamās und Fatḥ überwunden zu haben. Wie ist das möglich?«
»Nun«, meinte der zugeschaltete Nahost-Experte, »ein wesentlicher Faktor für den Machtverlust der Ḥamās ist die Blockadepolitik Israels, welche es geschafft hat, den Gazastreifen zu isolieren und damit zu beruhigen. Palästinensische Anschläge und entsprechende Eingriffe der Israeli haben in den letzten zwei, drei Jahren massiv abgenommen. Die Politik der Mauer scheint trotz internationaler Proteste aufzugehen. Dazu kommt, dass sich die Versorgung und damit die humanitäre Lage im Gazastreifen seit der Lockerung des israelischen Embargos für den Handel über das Meer im gleichen Zeitraum enorm verbessert hat – die Machtbasis der radikalen Ḥamās-Kämpfer und anderer gewalttätiger Gruppierungen ist dadurch merklich geschwächt worden. Zudem hat sich der regierende Teil der Ḥamās auf Druck vor allem der USA gemäßigt.
Das umgekehrte Bild zeigt sich dafür im Westjordanland. Dort ist die Fatḥ mit über zwanzig Prozent im Minus der große Verlierer. Selbst der Zuwachs der Brüderpartei auf 14,7 Prozent vermochte den Machtverlust der moderaten gegenüber den radikalen Kräften nicht komplett zu kompensieren. Die beiden Parteien bilden zusammen zwar immer noch die Mehrheit im Autonomierat, in der Tat sind aber die islamistischen Kräfte mit der Ḥamās an der Spitze die Wahlsieger im Westjordanland.
Das heißt, dass trotz des überraschenden Siegs der Brüderpartei im Gazastreifen das Kräftegleichgewicht zwischen Brüderpartei inklusive Fatḥ und Ḥamās im gesamten palästinensischen Autonomiegebiet labiler geworden ist. Die nahe Zukunft wird darüber entscheiden, ob ein geeinigtes Palästina an Macht und Einfluss gewinnen kann und so die Verhandlungen mit Israel wieder in Fahrt kommen. Oder ob nicht umgekehrt eine faktische Trennung von Gaza und Westjordanland die Krise verschärfen wird. Seit der letzten internationalen Friedenskonferenz von Malta vor neun Jahren …«
»Mmmh«, brummte Charles und stellte den Fernseher leiser, »in der Tat eine Überraschung.«
»Bist du nicht zufrieden?«, fragte Ted.
»Wir haben es erhofft – und befürchtet. Es wird sich bald zeigen, wer in Palästina wirklich das Sagen hat. Ich hoffe für Nadim, dass er der Mann ist, er hätte es verdient.«
»Sir, ein Anruf von Madame Lédoux«, kündigte der Privatsekretär an.
»Stell sie bitte durch. Und, Brad, ich muss anschließend mit Staatssekretärin Whiteford sprechen, von meinem Arbeitszimmer aus.«
»Sehr wohl, Sir!«
Ted wollte den Raum hinter Brad verlassen, aber Charles winkte ihn zurück.
»Bleib bitte hier, es gibt noch ein paar Sachen zu besprechen.«
Ted nickte und Charles stellte den Lautsprecher ein.
»Hast du das gehört«, sprudelte Françoise los, »Nadim hat es geschafft.«
»Ja, wir haben es eben gesehen.«
»Mir fällt ein Stein vom Herzen. Jetzt steht uns nichts mehr im Weg, wir können ungehindert mit dem Bau der Pilotanlagen in Gaza beginnen.«
»Gemach, gemach, wir wollen nichts überstürzen.«
»Wie meinst du das?«
»Ich glaube, es ist besser, wir warten damit bis zum Herbst zu.«
»Wieso? Wir können gleich nächste Woche loslegen, wir sind bereit.«
»Das ist nicht der Punkt, Françoise, daran zweifle ich auch nicht.«
»Woran denn?«
»Ich möchte sicher sein, dass die Wahl von allen Seiten akzeptiert ist und sich die ersten Wogen geglättet haben. Wir brauchen Ruhe im Gazastreifen, aber auch in Israel und dem Westjordanland. Ich will die Gründe der Machtverschiebungen genau verstehen, und dazu brauche ich Zeit und mehr Informationen.«
»O.K.«, erwiderte Françoise mit abklingender Aufregung, »unser ›Phoenix‹ fliegt uns ja nicht so schnell davon – der Osmose-Experte, den uns Cheng hier in Melbourne vermittelt hat, ist übrigens der Hammer! Wir haben den Wirkungsgrad nochmals um fünf Prozent gesteigert. Er geht nächsten Monat nach Zypern, um auf der Asteroid weiter an den biochemischen Komponenten zu arbeiten.«
»Das sind gute Nachrichten! Ich muss jetzt Schluss machen, Françoise, Doris ruft jeden Augenblick an.«
Die Verbindung war bereits unterbrochen, als Charles ein ungewöhnliches Geräusch in der Leitung zu vernehmen meinte. Ein kaum wahrnehmbares Pfeifen.
»Was ist?«, fragte Ted den skeptischen dreinblickenden Charles.
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