Heinz-Dieter Vonau - Das Gassi-Syndrom

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Elmer ist im reiferen Alter unfreiwillig «auf den Hund gekommen». Ihr Name ist Lotte. Sie ist eine Madame und ein Terrier. Elmer versucht in der täglichen Gassi-Routine die Eigenarten dieses Tieres zu verstehen. Er vergleicht seine Beobachtungen mit der Welt des Menschen. In den Kommentaren der Hunde-Dame entdeckt der Leser sich schmunzelnd immer wieder selbst im Spiegel der Natur und dem, was der Mensch daraus gemacht hat.

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Hund zum Herrn:

„Nicht der Knochen ist das Ziel.

Das Graben nach dem Knochen“

Am Isebekkanal

Der Autor Heinz-Dieter Vonau schreibt gern, wenn er denn Lust und Zeit dazu hat. Er nutzt gnadenlos seine Umwelt und verwurstet sie mit seinem Verständnis von Leben und dem ganzen drum rum. Man könnte von Verarbeitung sprechen. Soll ja dem Bewusstsein hilfreich zu Gute kommen. Jedenfalls ist das hier sein zweites Buch, nach „Osterhasen küsst man nicht“, in dem er die Beziehungen des menschlichen Geschlechts zueinander auf´s Korn nimmt. Er macht noch so manches Andere, aber wen interessiert es schon. Falls doch: heinzdietervonau.de. Kann man mal drin rum schnüffeln.

Hunde, wollt ihr ewig leben?

Deutscher Film aus dem Jahr 1959 unter der Regie von Frank Wisbar

nach dem gleichnamigen Roman von Fritz Wöss.

das Gassi Syndrom

Elmer hatte nie einen Hund. Er wollte auch nie einen haben. Er wusste nicht, wozu das gut sein soll. Dann trifft er auf ein „Frauchen“. Der Weg zu ihr führt direkt zu „Madame Lotte“. Eine gereifte, moppelige ältere Dame, mit einem sehr eigenen Willen, die sich die Butter nicht so leicht vom Brot nehmen lässt. Oder das Futter aus dem Napf. Oder die nach Fressbarem riechende Plastiktüte aus dem Maul … Elmer setzt sich bei seinen täglichen Spaziergängen mit „dem Besten Freud des Menschen“ intensiv mit dessen Welt auseinander. Er entdeckt bizarre Eigenarten und Verhaltensweisen. Und das Verhältnis zwischen Hund und Frauchen ist von wirklich besonderer Natur. „Madame Lotte“ antwortet seinen Gedanken in charmanter Weise. Schmunzelnd entwickelt man ein tieferes Verständnis dieser merkwürdigen Symbiose von Welt, Mensch und Tier.

Die Zukunft beginnt hinter der Leere des Fressnapfes.

Madame „Lotte“

Inhaltsverzeichnis

Tier oder Tier-Los?

Die Anomalie des Animalischen

„Gassi“ gehen

Wohnung oder Bau

Es kann nur einen geben

Exkremente Extrem

Ich sorge mich, also bin ich

Du bist, was du frisst

Fressen und Gefressen werden

Werte und Verwertbarkeit

Blasengenetik

Alle Macht dem Hund?

Wo ein Wille …

Hunde, wollt ihr ewig leben?

Aus Zwei wird Eins

Geht nicht gibt’s doch

Sein oder Nicht-Sein

Rhett Butler kehrt zurück

Liebe bis in den Tod

Hülle und Fülle

Die Kunst der Manipulation

Die Tochter von Rhett Butler kehrt auch zurück

Abschied

Impressum

Tier oder Tier-Los?

Elmer! Jetzt hat er einen Hund. Hat nie in seinem Leben ein Tier haben wollen. War sich immer selbst genug. Hat lange gedauert, bis er mit sich selbst einigermaßen klarkam. Der Umgang mit Anderen der eigenen Rasse war schwierig genug.

In seiner Kindheit gab es einen Wellensittich. Der war ganz nett. Von den Eltern angeschafft. Ein Beitrag zur Arterhaltung einer aussterbenden Spezies, wie man in einer Fernsehwerbung in den Sechzigern erfahren konnte: „Acht von zehn Sittichen leiden unter einer lebensgefährlichen Schilddrüsenvergrößerung“. Die konnte man retten mit Trill und Jod-S11-Körnchen. Eine heroische Tat. Mit dem Tier an sich war nicht viel anzufangen. Es flog hier hin, flog da hin, gab Töne von sich, in denen die Erwachsenen erfreut Wörter vermuteten. Es ließ seine Verdauungsreste dahin fallen, wo sie gerade aus dem Körper heraus wollten. Beindruckend. Keiner schrie, keiner strafte. Es wurde in die Kategorie niedlich eingestuft. Die kindliche Neugier Elmers gegenüber dem fremden Wesen hielt sich in Grenzen. Allein die Vorstellung, dasselbe Privileg der freien Ausscheidungen auch für sich zu nutzen, ließ ihn innerlich erstarren. Die Erinnerung an die letzte Züchtigung bei einem weit banaleren Anlass, durch seinen in diesen Dingen völlig humorlosen Vater, erstickte den Gedanken schon im ersten Ansatz.

Seine Mutter hatte mehr Zugang zur Kreatur. Das Tier verlor nach einer gewissen Anpassungsphase seine natürliche Scheu vor dem Fremden, saß permanent auf der Schulter der Hausfrau und knabberte am Ohr, ohne Schmerzen zu erzeugen. Die Zutraulichkeit wurde sogar auf dem Balkon beibehalten, beim täglichen Plausch mit der Nachbarin. Sie wurde zur Gewohnheit, in der man der Außergewöhnlichkeit keine Beachtung mehr schenkte. So wie eines sonnigen Tages: Eine vor dem Balkon stehende Nachbarin. Eine sorglos plaudernde Mutter. Vertieft in Gespräche über Alltäglichkeiten, alles vermeidend, was dem inneren Status Quo hätte zuwider laufen können.

Unbemerkt legte sich an diesem Tag eine zarte, unsichtbare Wolke um die Plaudernden. Einer jener seltenen Momente, in denen sich die Welt langsamer zu drehen beginnt und eine Ahnung ihre unhörbare Stimme erhebt. Jenseits der bekannten Welten wurden Möglichkeiten sichtbar, die sich selbst im Traum dem Bewusstsein entziehen. In genau diesem Moment löste sich das Wort Freiheit von seiner Begrifflichkeit, um in der Erfahrung zur Gewissheit gelangen zu können. Die Mutter spürte nichts. Die Nachbarin merkte nichts. Der Sittich horchte auf. Legte den Kopf schief und lauschte der verborgenen Stimme. Aus der Sicherheit der bekannten Schulter und des konstanten Futterangebotes heraus, breitete er seine Flügel aus und löste sich leicht und locker aus der Umgebung des Vertrauten. Flatterte in die Unbegrenztheit einer offen vor ihm liegenden, unbekannten Welt. Mit einem einzigen Schwung überließ er sich der Unendlichkeit des unvorhersehbar Neuen. Taumelte sinnestrunken in den blauen Himmel über der Eisenbahnersiedlung dem Bahndamm entgegen, der das Gelände vor dem Haus begrenzte.

Der Sittich wurde nie wieder gesehen. Alle Suchaktionen verloren sich in Misserfolgen. Er fand den Weg zurück nicht mehr. Oder wollte ihn nicht finden. Was wissen wir schon von anderen Welten. Wir kennen ja kaum die eigene, geschweige die unseres Nachbarn. Jedenfalls setzte der Vogel, neben der Traurigkeit des Verlustes, ein Zeichen in das kindliche Gemüt einer verbeamteten deutschen Heimstatt: Auch wenn du dich um deine Verdauungsreste nicht kümmern musst - Du hast (k)eine Chance, nutze sie!

Das tangierte Elmer in dieser Zeit nur peripher, wie er in seinem späteren Leben sagen würde. Vielleicht war er auch nur zu jung, den Vorgang in seiner einzigartigen Bedeutung würdigen zu können. Die Zeit der Auseinandersetzung mit sich, seiner Spezies, deren Verhaltensweisen und Beweggründen, war noch nicht gekommen. Elmer betrachtete die Welt mit großen Augen als eine bunte Spielwiese, die keiner Erklärung bedurfte, die einfach nur da war. Die sich seinem Bewusstsein nur nach und nach erschließen sollte.

Eine zweite Möglichkeit, sich der Welt einer tierischen Andersartigkeit zu nähern, geschah durch den Gewinn eines Loses auf einer Ausstellung. Er gewann einen Kanarienvogel. Es endete tragisch unter dem Diktat des Zufalls. Das kleine, nette, hübsch singende, ebenfalls fliegen könnende gelbe Tier, bekam nach einer gewissen Eingewöhnungszeit in die neue Umgebung, einen Nestbauimpuls. Es sammelte in der ganzen Wohnung Fäden für ein weiches, gemütliches Heim. Wo der dafür erforderliche Befruchtungsvorgang herkommen sollte, entzog sich den Beobachtern. Oder hatte das Los eine Befruchtete getroffen? Beschwingt sammelte die flinke Kanarie alles, was zum Bau des Nestes erforderlich war, egal wo es gerade lag. Ein interessanter Faden befand sich auf dem Sessel von Elmers Vater. Das Nestbaurequisit war irgendwie festgeklemmt. Eingewoben ins Hier und Jetzt brauchte der Vogel seine gesamte Aufmerksamkeit, Geschicklichkeit und Kraft, den Faden loszubekommen. Der Vater, wie üblich, seine Umgebung als sich nie ändernden Zustand auffassend, kam und setzte sich, eine Zeitung ergreifend, auf diesen, seinen angestammten Sessel. Der Vogel, vertieft in sein Tun, der Vater, vertieft in sein anstehendes Tun. Ein schicksalhafter Moment, der erst dann in seiner tragischen Weite erkennbar wurde, als jemand fragte: Wo ist eigentlich der Vogel? Da bemerkte das sensible Familienoberhaupt, dass es eine Stelle an seinem Hintern gab, die eigenartigerweise wärmer war, als der Rest seines Gesäßes. Das Tier konnte nur noch erstickt geborgen werden. Wie schnell der Zufall dem Leben ein Ende setzen kann!

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