Bis vor einigen Jahren waren zuerst die PLO, anschließend die Fatḥ und zuletzt die Ḥamās die einzigen palästinensischen Organisationen gewesen, welche sich um diese Kinder kümmerten. Nicht immer nur aus humanitären Gründen, sondern häufig aus politischem Kalkül. Damit verschaffte man sich Ansehen und gewann die einheimische Bevölkerung für seine Ziele. Häufig wurden die Kinder in einschlägigen Koranschulen untergebracht. Dass sie später, als junge Erwachsene, leicht für selbstmörderische Attacken zu gewinnen waren, wurde bald zu einem allgemein akzeptierten Nebeneffekt dieser Art der Fürsorge.
In der seit Generationen verfahrenen Situation zwischen Palästina und Israel hat sich die Überzeugung von der Notwendigkeit des Kampfes langsam in den Herzen der Palästinenser eingenistet. Für die meisten Menschen ging es dabei einfach ums Überleben. Für einige wenige, die sich außerhalb von Palästina in der nach Attraktionen lechzenden Medienwelt einen Namen errungen hatten, ging es um die nicht verhandelbare Frage von Glauben und Recht. Sie wurden zu rühmlichen Namen im heiligen Kampf gegen die Besatzer und Ungläubigen.
Vor zwei Jahren begann sich indes in al-Qubāʾ und in den anderen Flüchtlingssiedlungen etwas zu ändern. Neben den Einheimischen und den wenigen internationalen Helferorganisationen schlich sich ein neuer Anbieter langsam aber unaufhörlich in die Gemüter der Flüchtlinge. Auf einmal war die Ḥamās nicht mehr die einzige Organisation, die mit Parolen und Essen präsent war. Zwar blieb sie die einzige, welche Propaganda machte. Aber diese andere Gruppierung gewann ständig an Einfluss. Nicht mit Worten, sondern mit Taten. Sie schienen unbeschränkten Zugriff auf Nahrungsmittel, Medikamente und Kleidung zu haben. Ein nicht abreißender Strom dieser Güter floss direkt zu den bedürftigen Menschen, und das waren hier eigentlich alle.
Bereits in der ersten Woche machte sich Haīkal bei den ›Neuen‹ beliebt: »Seht an, die neuen Gutmenschen sind gelandet. Sie bringen Reis und Brot, Allah sei Dank. Sie helfen uns, tatenlos fett zu werden.«
»Seht nur«, lachte ein untersetzter Mann mit einer ausladenden Verbeugung und Armbewegung zurück, »der Fastenbruder von al-Qubāʾ gibt uns die Ehre. Weil er uns nichts abnimmt, müssen wir uns selber vollstopfen.«
Haīkal war sich nicht gewohnt, dass ihm jemand Paroli bot, aber er fasste sich schnell. Üblicherweise waren die ausländischen Helfer entweder aufgeblasen und arrogant oder ruhig und wortkarg, selten aber witzig. Oftmals waren es Amerikaner oder Europäer. Die hier schienen jedoch alle aus der Region zu kommen.
»In der Tat«, sagte Haīkal, » du hast kein Essen mehr nötig – «
»Im Gegenteil zu dir«, unterbrach dieser den schlaksigen Jungen. Er kramte in einem Sack auf dem Tisch und hielt Haīkal einen Farareer hin: »Da nimm und iss in Frieden«.
Haīkal schaute ihn verdutzt an, nahm das süße Gebäck jedoch ohne zu zögern. Er konnte sich kaum erinnern, je so etwas Leckeres in die Hände gekriegt zu haben.
»Danke«, sagte er in normalem Ton, »ich heiße Haīkal.«
»Ich bin Ḥusām, Ḥusām Ḫalīl aus Ägypten …«
Die beiden schauten einander an und bevor sich Haīkal zum Gehen abwandte, sagte Ḥusām: »… und wir können Leute brauchen, die uns ein wenig unter die Arme greifen.«
Es war das erste Mal, dass der Fünfzehnjährige um Hilfe gefragt wurde. Haīkal war vor drei Jahren nach Gaza gekommen, um Arbeit zu finden. In dem kleinen Dorf nahe der israelischen Grenze, wo er aufgewachsen war, gab es kein Auskommen mehr für ihn. Und die Mauer hielt Kinder und Jugendliche unnachgiebig in ihrer eigenen Welt gefangen. Aber auch hier gab es längst nicht genügend Arbeit für jeden, und so fristete er ein frustrierendes Dasein in der großen Stadt. In der Siedlung fand er genug zum Überleben sowie gleich gestrandete Jungen in seinem Alter. Die Tage verbrachte er gezwungenermaßen mit Betteln und manchmal mit Stehlen.
Den Lockrufen der Ḥamās war er bis anhin nicht erlegen, zu dumm und fad schienen ihm die Geschichten vom Paradies und von den Märtyrern, die ihm aufgetischt wurden. Denn mit Geschichten, da kannte sich Haīkal aus. Er hatte sich bereits als Kind im Dorf als Erzähler beliebt gemacht. Eine Gabe, die das Leben zwar nicht einfacher, aber oftmals erträglicher machte.
»Und?«
Haīkal war mit offenem Mund stehen geblieben. Die Frage hatte ihm doch echt die Sprache verschlagen. Noch war er sich nicht sicher, ob er sich über das Angebot freuen oder ärgern sollte. Was würde er den ganzen Tag lang tun, wenn er sich schon am Morgen den Bauch vollgeschlagen hatte? Zudem war er in der Zwischenzeit sein eigener Herr. Umgekehrt war es verlockend, einem quirligen Ägypter zu helfen. Das konnte ganz lustig werden.
»Was ist das für Arbeit?«, wollte er wissen. »Ich habe keine Zeit für, für unnütze Handlangerdienste, ich bin ein gelernter – ein gelernter … Maurer nämlich – und ich bombe mich nicht in den Himmel. Seid ihr Ḥamās-Leute?« Haīkal biss sich auf die Lippe. So lausig hatte er schon lange nicht mehr formuliert.
Ḥusām verkniff sich das Lachen: »Nein, wir sind unabhängig und verkaufen keine Fahrkarten, weder ins Paradies noch in die Hölle. Wir brauchen einfach Leute, die uns beim Transport der Waren vom Meer hierher helfen. Es ist auch bloß eine Arbeit für den Nachmittag, ohne Bezahlung. Zu Essen erhalten so oder so alle, ob sie helfen oder nicht.«
»Das heißt, es ist nicht anstrengend, völlig langweilig und bringt nichts«, fand Haīkal die Sprache wieder, »das klingt in der Tat nach dem idealen Job für einen wie mich. Und wenn ich dann groß und stark bin, dann kann ich ja noch immer Maurer oder Bombenleger sein.«
Diesmal musste der Ägypter lachen. »Dann hoffe ich nur, dass du nicht so schnell groß wirst. Also dann bis morgen nach dem Ẓuhr.« Mit einem Handschlag war die Sache geregelt. Haīkals Augen strahlten, als er vom Verteilungsposten in die Siedlung zurücklief und in den Farareer biss.
In den zwei Jahren, in denen er seither jeden Nachmittag zur Landungsstelle am Strand gelaufen war, hatte sich seine Aufgabe nicht verändert. Nur war er inzwischen zu einer Art Vorarbeiter aufgestiegen und führte eine Schar anderer Kinder und Jugendlicher an, die mithalfen. Die Arbeit war einfach und nützlich. Es ging darum, die Lebensmittel und anderen Güter von den kleinen Booten zu entladen und zu Fuß mit Anhängern nach al-Qubāʾ zu transportieren.
Haīkal und sein Trupp waren nicht die einzigen, welche die wenigen Kilometer hin- und hereilten. Unzählige Gruppen taten dasselbe. Auch Mädchen und Frauen halfen mit. Mit der Zeit wurden die Waren nicht nur zur Flüchtlingssiedlung gebracht, sondern überallhin. Es hieß, dass der ganze Gazastreifen auf diese Weise von den drei großen Frachtschiffen vor der Küste versorgt wurde.
Bei den Hilfslieferungen, welche die Ḥamās verteilte, stand immer der Absender zuoberst. Weizen aus Russland, Reis aus Thailand, Decken und Zeltplanen aus Frankreich. Waren vom Roten Halbmond, vom Roten Kreuz, von der UNESCO, der EU und so weiter. Zwar hatte diese Organisation offiziell auch einen Namen, aber niemand verstand ihn. Sie hatten sich angewöhnt, vom Walfisch zu sprechen. Die Delfine auf dem Emblem der großen Schiffe schienen ihnen zu klein dafür. Denn wie beim größten aller Meeresbewohner schien auch diese Non-Profit-Organisation unendlich viel herzugeben. Die palästinensischen Helfer bezeichneten sich selber bald Walfänger.
An den Vormittagen streifte Haīkal mit seinen Freunden in Gaza umher. Sie hielten nach brauchbarem Schwemmgut Ausschau, welches die Schutt- und Abfallhaufen in die Straßen gespült hatten. Alles wurde inspiziert. Es kam zwar nicht oft vor, aber ab und zu fanden sie noch etwas Brauchbares. Diese Dinge konnten in der Siedlung gegen Esswaren eingetauscht werden, früher. Heute, wo die Leute genügend zu Essen hatten, wurden andere Sachen eingetauscht, die irgendwie erstrebenswert erschienen. Manchmal verteilte Haīkal die Fundstücke einfach denen, die es am besten gebrauchen oder verwerten konnten.
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