Welcher vernünftige Fisch lässt sich schon freiwillig im Netz fangen? Er kann ja genauso gut wegschwimmen statt ins Netz hinein …
Er wollte die Stimme nicht hören. Weshalb hatte ihm Großvater nicht einfach die Wahrheit gesagt? Wieso hatte er von Wasserfrauen geredet, wenn es doch nur Allah und den Propheten gab? Niemand erschien, um Qadim zu retten. Kein Prophet, kein Allah, keine Wasserfrau, kein Großvater, niemand!
Zorn stieg in ihm empor. Er begann, alles darin zu tünchen. Diese Madrasa, wo nichts als Hass auf alle anderen gelehrt wurde. Er verfluchte Amir, der ihm nichts als Märchen aufgetischt und Hoffnung auf einen falschen Weg gemacht hatte. Die Mitschüler und die Juden, die nur Verderben und Unglück mit sich brachten. Er hasste sich selber dafür, dass er nichts ausrichten konnte. Er war ja nicht einmal imstande, seinen Bruder zu beschützen.
Dem Zorn folgte Verzweiflung. Verzweiflung darüber, dass auch Qadim Vaters Ehre nie mehr würde retten können. Es war nun an ihm alleine, das zu tun. Ein Gedanke, der ihn schließlich traurig stimmte. Nicht aus Angst, sondern aus Ohnmacht vor der Aufgabe, die ihm auferlegt war.
Warum hat mir Großvater denn nicht gesagt, dass es die Wasserfrauen gar nicht gibt? Dass die Fische entweder aus lauter Dummheit oder von Mohammed getrieben ins Netz gehen?
Wie vermisste er ihn doch! Er würde ihm alles erklären und Mut machen. Aber Großvater war tot. Er musste nun seine Familie rächen. Gerechtigkeit, so wurde ihnen beigebracht, führte über den Glauben ins Paradies. Was aber war gerecht für Qadim? Abdoul wollte helfen, wollte rächen und blieb doch machtlos.
Nahende Schritte brachten ihn zu Sinnen. Wenn Barek mit seiner Horde zurückkam, war es um ihn geschehen. Voller Panik sprang er auf und rannte durch das große Eingangstor hinaus vor die Schule. Einzig zwei Alte schlenderten langsam die enge Gasse hinunter. Es war unterdessen dunkel geworden. Die Schritte der beiden Männer wurden leiser und leiser.
Der Junge war bereits die Gasse hinauf und um die Ecke gerannt, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Die Muschel! Die dunklen Gedanken, die vorhin durch seinen Kopf gejagt waren, waren wie weggeblasen. Er hatte die Muschel vergessen. Ich muss die Muschel holen! Aber wie sollte er das anstellen?
Vor einiger Zeit hatte er sie im Vorratsraum neben der Küche hinter einem losen Ziegelstein versteckt. In der Küche wurde jetzt gekocht, dann gegessen, später Tee getrunken und anschließend bis tief in die Nacht hinein palavert. Wie sollte er da unbemerkt in die Kammer gelangen? Unmöglich! Vielleicht wäre es doch besser, ohne die Muschel abzuhauen. Sie hatte in den zwei Jahren hier genug Unglück über ihn gebracht. Zunächst Zureden, dann Strafen, Prügeln und zuletzt Qadim …
Beim Gedanken an seinen Bruder wurde ihm erneut schwindlig. Er kauerte sich nieder. Sein Großvater hat ihm nicht gesagt, dass eine Muschel dermaßen viel Unheil bringen konnte. Die Wasserfrauen waren immer nur gütig. Vielleicht sind sie wütend, weil ich an der ganzen Geschichte zweifle?
In seinem Kopf drehte sich alles und er musste sich hinlegen. Nach kurzer Zeit schreckte er auf. Er glaubte, Schritte und Stimmen gehört zu haben. Aber er hatte sich getäuscht. Niemand kam um die Ecke gebogen. Die Gasse blieb menschenleer. Komisch, weshalb verfolgen sie mich nicht? Sein Bauch schmerzte. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Er rappelte sich erneut auf und bog in eine Seitengasse ab. Irgendwie wollte er nicht glauben, dass sein Großvater oder die Muschel schuld an der Misere waren.
War nicht eher die Schule schuld daran? Hat nicht schon sein Vater gemeint, dass die Koranschulen der Radikalen keine guten Schulen sind. Statt etwas Rechtes zu lernen und zum Arbeiten angeleitet zu werden, werde die Jugend in den Tod getrieben – aber wofür? »Was nützte es, wenn meine Kinder im Paradies sind und ich selber alt und gebrechlich hier verkümmere?« Vater hätte sie ganz bestimmt nicht hierher geschickt.
Alles, was er bisher verstanden hatte, war, dass Hass keine Gerechtigkeit bringt, sondern Unglück und Tod. Und er konnte jetzt lesen und schreiben. Das war das Einzige, was ihm gefiel. Vielleicht würde er beim Versuch, die Muschel zu holen, selber sterben. Dann war wenigstens alles vorbei. Oder eben nicht, weil dann seine Familie ungerächt bliebe und er nicht in das Paradies käme? Derart grübelnd dämmerte er endlich ein, bloß, um kurz darauf wieder hochzufahren. Er überlegte hin und her, ohne einen Entschluss fassen zu können.
Weiter vorne kroch er zwischen zwei Mauern unter eine heruntergestürzte Betondecke. Er wartete. Lehrer und Schüler suchten definitiv nicht nach ihm. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Der einzige Weg, den er in den knappen zwei Jahren in dieser Stadt kennen gelernt hatte, war in Richtung der Ibn-Marwān-Moschee. So hockte er zusammengekrümmt da und begann zu frösteln.
Das Kauern und die kriechende Kälte erinnerten ihn an die Ausfahrten im Fischerboot, zu welchen ihn Amir ab und zu mitnahm. Mitten in der Nacht legten sie dann los, damit sie im Morgengrauen weit vor der Küste die Netze auswerfen konnten. Auf der langen Fahrt kuschelte er sich jeweils auf dem zusammengerollten Netz vorne im Boot ein und schaute voraus. Obwohl in Mutters Decke eingewickelt, wurde ihm mit der Zeit kalt. Dem Frösteln jetzt fehlte jedoch etwas Entscheidendes: der Geschmack von Salzwasser.
Sein Bauch pochte mehr als vorhin. Dafür wurde ihm bewusst, was er die letzten zwei Jahre am meisten vermisst hatte: Den Blick vom Boot zum Silberstreifen am Horizont, der den neuen Tag ankündete. Manchmal begleiteten Delfine das Fischerboot. Mit den verschmitzt wirkenden Schnauzen sprangen sie lässig Kapriolen. Halb eingelullt vom monotonen Tuckern des Zweitakters glaubte er jeweils, zwischen den Fischen noch etwas anderes zu entdecken. Eine Wasserfrau, die ihm freundlich zuwinkte. Aber jedes Mal, wenn er daraufhin hellwach wurde und genau hinsah, war sie bereits wieder verschwunden. Wann war er zum letzten Mal auf dem Meer gewesen?
Wenn er die Muschel holen wollte, musste das noch diese Nacht geschehen. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Gaza-Stadt war inzwischen verstummt. Stöhnend erhob er sich und fand nur mühsam zurück zur Schule. Sein Unterleib stach bei jedem Schritt. Der Knabe schob das Eingangstor sorgfältig eine Handbreit auf. Er wartete eine Weile, um sicher zu gehen, dass niemand das Quietschen der Scharniere gehört hatte. Gerade als er durch den Spalt schlüpfen wollte, überkam ihn der Gedanke. Und wenn Qadim noch im Hof liegt, wie so viele damals am Strand? Schreckliche Bilder stiegen in ihm auf. Längst vergessen geglaubte Bilder. Ihm wurde speiübel.
Von der Gasse her vernahm er Schritte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich geschwind in den Hof zu zwängen. Im tiefschwarzen Schatten schmiegte er sich an die Mauer. Schon betraten zwei Männer den Hof und schlossen das Tor hinter sich. Glücklicherweise hatten sie keine Lampe dabei. Zügig verschwanden sie im Gebäudeinneren.
Abdoul schlich der Wand entlang um den Platz herum. Hier hätte sein Bruder liegen müssen. Aber da lag niemand. Unsicher, ob er darüber erleichtert sein sollte, tappte er weiter in den großen Eingangsflur. Links lag die Küche. Sie war leer. Nur der süßliche Duft der Wasserpfeifen hing noch in der Luft. Er blieb stehen und horchte: Totenstille. Den Riegel der schweren Türe zur Vorratskammer vermochte er nur mit Anstrengung zurückzuschieben.
Drinnen war es stockfinster und roch nach Gewürzen, vergammelten Fleisch und verfaultem Gemüse. Der Ziegelstein, hinter dem er die Muschel versteckt hatte, befand sich in der Außenwand, etwa auf Kniehöhe. Gleichwohl musste er sich Stein um Stein vortasten, bis er ihn gefunden hatte. Das dauerte eine Ewigkeit. Vorsichtig zog er den losen Ziegel hervor und langte in das Loch. Da lag sie noch, eingewickelt in einem Fetzen altem Zeitungspapier. Mit der Erleichterung überkam ihn zugleich große Müdigkeit.
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