Richtig glücklich war Abdoul jedoch erst, wenn er eine schöne Muschel gefunden hatte. Er nahm jedes Mal nur eine, die schönste des Tages, mit nach Hause. Überhaupt behielt er nur die prächtigsten Schalen. Wenn er eine gefunden hatte, die ihm noch besser gefiel, musste dafür die hässlichste wieder weg.
An diesem Nachmittag hatte er noch keine Muschel gesehen, die es ihm wert erschien, sich zu bücken. Auch das restliche Strandgut ließ mit Ausnahme der blauen Korkkugel zu wünschen übrig. Bis er dann im nassen Sand einen wenige Zentimeter breiten Muschelpanzer entdeckte. Auf den ersten Blick sah die Schale unscheinbar aus, dunkelbraun mit einer gerippten Oberfläche und einer Reihe kleiner Zacken in der Mitte. Alles in allem glich sie dem Rückenpanzer einer kleinen Echse. Es gab keinerlei störende Farbflecken oder Muster, alles war gleichmäßig dunkelbraun. So eine Muschel hatte er noch nie gefunden. Als er sie aufklappte und mit Wasser ausschwenkte, blieb sein Mund vor Staunen offen. Das Innere war mit reinstem Perlmutt ausgelegt. Makelloser und weißer als alles, was er je gesehen hatte.
Eben wollte er Qadim, der ganz in der Nähe im Sand wühlte, den Fund zeigen, als es sich durch eine absolute Ruhe ankündigte. Für einen Sekundenbruchteil verstummten alle Geräusche. Was das Leben der beiden Brüder für immer verändern sollte, spielte sich in unmittelbarer Nähe ab. Als die Erwachsenen die unheimliche Stille mit lauten Rufen zu verjagen begannen, geschah alles gleichzeitig. Zunächst dachte Abdoul, sein Vater würde ihn und Qadim zurückrufen. Dann vermischten sich das Rufen und Schreien mit dem donnernden Daherbrausen einer israelischen Fliegerstaffel über den Sanddünen.
Im selben Augenblick hörte er etwas Vertrautes zischen. Er hatte dieses Geräusch schon mehrmals gehört. Nur noch nie von so nahe, so laut und so kurz. Sie hatten sich noch nicht fertig umgedreht, als sie die zwei Raketen sahen. Dann nahmen sie für lange Zeit gar nichts mehr wahr. Die Explosionen rissen die beiden Brüder auseinander und trennten sie von allem, was sie liebten – für immer. Selbst die Zeit hatte diesen Moment verlassen.
Ihre Familie kam ums Leben. Die Eltern, drei Geschwister, der Großvater, zwei Vettern, drei Basen, ein Onkel und zwei Tanten.
Das erste, was Abdoul zu hören glaubte, war die sanfte Stimme Amirs: Die schönste aller Muscheln ist deine Eintrittskarte in eine bessere Welt. Du hast sie heute gefunden!
Der Junge schrie nicht, seine Augen spiegelten das nackte Entsetzen eines zum Wahnsinn gehetzten Tieres. Tränen rollten stumm über seine Wangen. So lag er, bis sich die Zeit eines Besseren besann und verschämt an den Strand zurückkroch.
Qadim rannte dahin, wo die Granate ein tiefes Loch in sein Herz gesprengt hatte. Menschen torkelten herum. Mit der Zeit hörte Abdoul sie schreien und klagen. Er erhob sich und blieb regungslos stehen. Er ahnte, dass kein Schritt ihn je wieder dorthin zurückbringen würde, wo er eben noch gestanden hatte. Kein Gedanke und keine Liebe würden diese Sekunden je tilgen.
Der sich setzende Staub klärte seine Sinne. Ein ätzender Gestank stieg seine Nase hoch. Etwas Warmes rann aus der verkrampft zusammengeballten Hand. Die Muschelschalen hatten sich tief in das Fleisch geschnitten. Aber das tat ihm nicht weh. Er trottete zu seinem Bruder, der schreiend am Boden kauerte. Nicht Strandgut, sondern Tod und Schmerz lagen jetzt zerstreut am Meer entlang herum. Die eben untergehende Sonne zog die Schatten des Schreckens unendlich in die Länge. Erst mit dem Einbruch der Nacht wurde das Ufer von seinem Grauen erlöst.
Abdoul kniete neben Qadim, der heulend das farbige Kopftuch der Mutter in den Händen hielt. Es war unversehrt geblieben und selbst der beißende Geruch von Sprengstoff und verbranntem Fleisch vermochte ihren süßen Duft nicht aus dem Tuch zu verdrängen, niemals. Ohne Worte packte er Qadim am Arm. Für sie gab es hier nichts mehr zu suchen, oder zu finden. Auch die anderen Menschen, die sie kannten, hatten nichts zu geben.
Ihr Haus, das mehr eine Hütte war, lag außerhalb der Siedlung hinter einer Felsnase in der Nähe des Meeres. Gan Or war ein kleines Dorf zwischen Rafaḥ und Ḫān Yūnis, nur wenige Kilometer von der Grenze zu Ägypten entfernt. Schon ihr Großvater und der Vater des Großvaters waren hier aufgewachsen. Sie alle waren Fischer gewesen und hatten seit je ein kleines Boot am Strand vertäut. Der Vater jedoch fuhr nur noch selten aufs Meer hinaus. Überhaupt konnte niemand mehr sich und seine Familie vom Fischfang alleine ernähren. Die Fische waren längst weggezogen, und so taten es ihnen die Menschen gleich. Nicht ins Meer hinaus, sondern ins Landesinnere zu den großen Zentren oder nach Gaza-Stadt. Um Arbeit zu suchen, gingen sie bis zur großen Mauer, und darüber hinaus.
Oder sie gingen unter die Erde, in einen der zahlreichen Schmuggel-Tunnel nach Ägypten. Die wenigsten blieben und fanden eine bezahlte Beschäftigung in der Landwirtschaft. Ihr Vater hatte Glück und konnte bei einem Schwager im Olivenhain arbeiten. Alle und überall waren sie auf Hilfe angewiesen, um durchzukommen.
Abdoul war sich darüber im Klaren, dass sie zu Hause niemanden vorfinden würden. Erst achtjährig wusste er bereits, dass er nichts würde tun können. Was hätte er denn tun sollen? Die Hütte bestand aus einer Küche und einem kleinen Nebenraum, wo die fünf Kinder auf Matten auf dem Boden schliefen. Die Eltern hatten ihre Schlafplätze in der Küche, welche gleichzeitig als Aufenthaltsraum diente. Es war niemand da. Es brannte kein Feuer und kein Topf stand auf dem Herd.
Der kleine Bruder schluchzte ab und zu. Ohne etwas zu essen, legten sie sich nebeneinander zum Schlafen hin. Aber der Schlaf blieb dieser einsamen Nacht fern. Mit der Zeit verflog bei Abdoul der Schock und er begann leise und bitterlich zu weinen. Bis zum Morgen, der sich durch den Aufruf zum Fadschr in Rafaḥ ankündigte. Wenn der Wind vom Landesinneren her wehte, waren die Rufe des Muezzin zum Gebet mehr zu erahnen als zu hören.
An die folgende Zeit erinnerte sich der Palästinenserjunge nur verschwommen. Hin- und hergerissen zwischen wachsendem Verantwortungsgefühl dem Bruder gegenüber und Trauer und Wut über den Verlust der Familie konnte er nicht klar denken. Während der Beisetzung, an welcher die ganze Siedlung und halb Rafaḥ und Ḫān Yūnis teilnahmen, glänzte das Meer in der Ferne verheißungsvoll. Aber keine Verheißung wurde erfüllt. Übrig blieben Bilder von trauernden Menschen und wütenden Mengen. Vertreter und Aktivisten der Ḥamās waren ebenfalls präsent, wie immer bei solchen Gelegenheiten. Es wurde lautstark über die Ungerechtigkeit lamentiert und eifrig für die eigene Sache geworben.
Die offizielle Stellungnahme Israels klang zynisch: Fünf bewaffnete palästinensische Extremisten getötet, die Raketen auf Israel schießen wollten. Die zivilen Opfer sind unvermeidlich, solange die Ḥamās die Bevölkerung als Schutzschild missbraucht.
Auch die internationale Presse kam an die Beerdigung. Aber niemand und nichts war da, das den Verlust der Brüder hätte erträglicher machen können. Am Ende wusste Abdoul nicht mehr, wo er hingehörte. Es war sich nur sicher, dass er nicht hierbleiben wollte. Hier, an diesem Ort, wo Glück und Unglück Tür an Tür lebten.
Für Onkel Imad war klar, dass die Waisen nicht bei ihm bleiben konnten. Geld und Essen reichten nicht für alle. Es gab nur einen Ort für die Neffen, die Ibn Marwān Madrasa. Eine traditionsreiche, allerdings von radikalen Islamisten für ihre fanatischen Zwecke entfremdete Koranschule in Gaza. Dorthin wurden alle Kinder und Jugendlichen geschickt, für die niemand mehr aufkommen konnte, oder wollte: Egal ob Knaben oder Mädchen, wir stillen den Hunger der jungen Menschen! Soweit das Versprechen der Gottesanbeter.
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