„Dann ist es beschlossen, wir verschwinden. Die Frage ist nur: wie?“
Wir hatten beschlossen, dass die Zeit zur Flucht gekommen war. Wir wussten nun in etwa, wohin wir gehen konnten. Dieses wissen, alleine dieser Beschluss erweckte in mir sämtliche Lebensgeister. Die Freiheit war nun in fast greifbare nähe gerückt, allerdings bedachte ich in meiner Euphorie nicht das größte Problem: diese Uhr an unserem Handgelenk.
„Um von hier verschwinden zu können, müssen wir dieses Ding an unserem Arm loswerden. Ich mein, ich hab zwar Ahnung von Technik, dennoch wäre es besser, wenn ich mir diese Uhr einmal von innen ansehen könnte", meinte Ben.
„Dann werde ich wohl beim Leichendienst, eine Leiche verschwinden lassen müssen", antwortete Kai leichthin, ohne dass er es wirklich ernst meinte.
„Das ist doch eine super Idee", ermunterte ich Kai. „Erzähl doch mal allen, was du da genau machen musst?“
„Ja, sag mal.“, Ben und Silke sprachen die Worte gleichzeitig.
„Nun ja, ich muss hier durch das Gebiet laufen und die Leichen einsammeln. Dabei helfen für gewöhnlich noch drei Leute aus den anderen Baracken. Bernd, Michael, Sascha und ich. Wobei wir alles getrennt abgehen, niemals gemeinsam, so schaffen wir es in kürzerer Zeit. Bevor wir die Toten auf den Schubkarren laden, nehmen wir ihren die Uhren ab. Bei den Toten geht das, weil kein Puls mehr da ist. Na ja, und dann legen wir die Leichen auf einen Haufen und sie werden verbrannt. Danach gibt einer von uns die Uhren bei den Mächtigen ab.“
„Werden die Leichen noch mal von ihnen gezählt?“, wollte Jonas wissen.
„Nein.“
„Dann ist es ja kein Problem jemanden verschwinden zu lassen.“, Jonas grinste.
„Wenn es nur die Leichen wären, dann nicht. Bei den Uhren mache ich mir Gedanken“, erwiderte Kai.
„Wieso?“, wollte Ben wissen.
„Sie haben eine Überwachungsstation. Damit überwachen sie ihren Sklavenbestand. Wenn nun einer von uns stirbt, also kein Puls mehr da ist, wechselt das jeweilige Licht auf der Überwachungsstation die Farbe von Grün nach Rot, dann werden wir losgeschickt, die Leichen zu suchen und ihnen die Uhren zu bringen.“
„Dann fällt ja sofort auf, wenn eine Uhr fehlt.“, ein Hauch von Verzweiflung tat sich in mir auf. Es ist hoffnungslos, wir kommen hier nie raus.
„Bei zwei oder drei Signalen auf jeden Fall, aber wenn mehr als 10 gleichzeitig sterben und dann am besten auch noch eine krumme Zahl, neunzehn oder so, haben wir eine Chance, obwohl es immer noch ein Risiko darstellt.“
„Wir sollten es auf jeden Fall ausprobieren, sobald die nächste größere Menge Menschen verstirbt", sagte Jonas.
„Kein Problem. Ich werde mich darum kümmern.“, als Kai das sagte, sah ich in seinen Augen wieder etwas Lebensfreude aufflackern. Endlich, nach all den Jahren, hatten wir wieder ein Ziel, das es zu verfolgen galt.
Am nächsten Morgen nahmen wir ganz normal unsere Arbeit auf und vermieden es unseren Fluchtplan außerhalb der Baracke zu erwähnen. Es regnete wieder einmal, und ich kniete am Wassersammelbecken, um das Regenwasser in die Flaschen abzufüllen. Ich bemerkte, dass ich beobachtet wurde, und blickte mich um. Etwas weiter sah ich den großen Mächtigen stehen; ich glaubte, seinen Blick fast körperlich zu spüren. Ich verbeugte mich kurz, um meine Unterwürfigkeit zu demonstrieren. Er lachte amüsiert. Seinen Blick auf mir zu spüren fand ich unangenehm. Die ganzen drei Jahre, seit unserer ersten Begegnung, fühlte ich mich von ihm beobachtet. Als hätte er nichts Besseres zu tun als mir Tag für Tag nach zu stellen. Ich fragte mich warum er das tat; was er von mir wollte. Was war denn jetzt noch an mir interessant? Bevor sie unsere Erde heimgesucht hatten, hatte ich mich selbst auch als hübsch empfunden. Aber jetzt, nach all den Strapazen und dem Hunger, war ich doch nichts mehr. Eine graue Maus unter vielen, nicht mehr halb so ansehnlich wie früher. Ich wunderte mich sogar darüber, dass Kai mich noch mit Liebe in den Augen ansah.
„Wenn mich jemand fragen würde, wo seine Schwäche liegt, würde ich sagen sie liegt bei dir", hörte ich eine Männerstimme hinter mir sagen. Erschreckt drehte ich mich um. Es war Dominik, er lebte in Baracke Nummer zwei.
„Ich weiß, was du meinst. Es nervt schon, ständig unter Beobachtung zu stehen.“
„Mich würde ernsthaft interessieren, was er denkt, wenn er dich so ansieht", meinte Dominik.
„Er wird wahrscheinlich darauf achten, dass wir unsere Arbeit richtig machen. Was denkst du denn?“, antwortete ich leicht genervt von dem speziellen Unterton, den er in seine Stimme gelegt hatte.
„Nun ja, er ist immerhin männlich. Seine Blicke folgen dir ständig. Er sucht quasi nach dir. Wäre er einer von uns, würde ich fast sagen, dass er sich vorstellt wie du und er zusammen …“
„Sieht das wirklich so aus?“, unterbrach ich Dominiks Ausführungen.
„Vermutlich stellt er sich gerade vor, wie er dich auch in einem anderen Sinne benutzt.“
„Hör auf, das will ich mir gar nicht vorstellen", gab ich verärgert zurück. „Bisher hat er mich immer nur aus der Ferne begafft, und das soll auch so bleiben.“
„Wenn du mich fragst, ich finde, du solltest dich für uns alle opfern, mal etwas freundlich zu ihm sein. Vielleicht ging es uns dann allen besser.“
„Erstens hat dich niemand gefragt und zweitens, glaubst du wirklich das dieses Wesen tatsächlich ein amouröses Interesse an einem Menschen haben kann?“, sagte ich kühl und begann schnell weiter Wasser in die Flaschen zu füllen, als ich sah, dass der Große sich direkt auf uns zu bewegte. Dominiks schelmisches Lachen verstummte.
„Was gibt es hier zu quatschen, hast du nichts zu tun, zurück an die Arbeit, aber sofort.“
Dominik verbeugte sich schnell und lief zurück zu den Feldern. Auch ich sah zu Boden, da ich bereits kniete, brauchte ich nur noch meinen Blick zu senken, um Demut zu beweisen.
„Du darfst wieder aufsehen", sagte er schroff.
Unsere Blicke trafen sich, doch anstatt ihn hasserfüllt anzusehen lag Dankbarkeit in meinem Blick. Dankbarkeit dafür, dass ausgerechnet er mich vor weiteren demütigenden Worten geschützt hatte. Ein schüchternes Lächeln huschte über meine Lippen. Unwillkürlich beugte er sich ein Stück zu mir herunter, nur wenige Zentimeter. Sein Blick war starr. Was bezweckte er damit, wenn er mir so in die Augen sah? Was würde er nun machen? Er war zu nah. Eine gespaltene Zunge kam zum Vorschein. Die Zunge einer Schlange, passend zu seinen Augen. Ein weiterer Beweis dafür, dass ich es hier nicht mit einem übergroßen Menschen zu tun hatte, der einfach nur böse war. Er will dich besitzen, mehr noch als alles andere auf dieser Erde – fuhr es mir, angesichts Dominiks Mutmaßungen, durch den Kopf. Ich machte mich bereit zu laufen, für den Fall das er sich noch mehr nähern würde. Doch er zog sich zurück.
„An die Arbeit, Wildkatze", sagte er ungewohnt ruhig. Als er ging, sah ich, wie er kurz seine Hand zu einer Faust ballte. Eine solche Reaktion kannte ich als Zeichen, der Selbstbeherrschung.
Der Regen wurde stärker, viel stärker und es zog ein unnatürlich wüster Wind auf. Er pfiff wild über die Felder. Es begann zu hageln, ich hob meine Flaschen auf und versuchte gegen den Wind anzukämpfen, um in meine Baracke zu gelangen. Selbstschutz trieb mich an; es war mir egal, dass die Mächtigen wollten, dass wir unsere Arbeit fortsetzten. Ich wollte irgendwo hin, wo ich vor dem geschützt war, das vom Himmel auf uns niederschlug. Doch ich hatte kaum eine Chance gegen den Wind. Nur mühsam kam ich voran. Die Hagelkörner, golfballgroß trafen mich schmerzhaft an Kopf und Rumpf. Sie würden gut sichtbare Spuren hinterlassen. Ich sah Kai, wie er zu den Baracken lief. So laut ich konnte, rief ich nach ihm. Doch ich hatte Zweifel, dass er mich durch das laute Pfeifen des Windes hören konnte. Aber ich hatte mich geirrt: Kai hatte mich gehört oder zumindest gesehen, denn er kam auf mich zu und zog mich mit sich in die Baracke. Wir waren die Ersten, die zu Hause ankamen, ich stellte die Wasserflaschen auf den Boden. Kai zündete die Feuerstelle an. Laut knallten die Hagelkörner auf das Wellblechdach und der Wind ließ das Gebäude beben. Kurz nach uns kamen auch Anna und Silke. „Das sind keine Körner mehr, das sind Bälle.“, rief Anna mir zu. Durch den Krach, der von dem Dach ausging, konnte man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Jonas und Ben kamen. Ben hatte etwas in der Hand. „Seht euch das an!“, rief er und zeigte uns ein Hagelkorn von der Größe eines Tennisballs. Jetzt konnten wir nichts tun als warten, bis dass sich das Unwetter gelegt hatte. Der Wind wurde noch stärker. Die Baracke vibrierte unter den kräftigen Windstößen. Ich hatte Zweifel daran, dass dieses Gebäude dem Sturm standhalten würde. Kai ging gerade zu unserem Schlaflager, er wollte sich ein wenig hinlegen, als uns ein extrem lauter Schlag zusammenzucken ließ. Dort wo Kai noch vor einer Sekunde gestanden hatte, war ein Hagelball durch das Wellblech geschlagen. Er war etwa so groß wie ein Handball; so etwas hatte ich noch nie gesehen. Du Glückspilz , dachte ich, der hätte dich erschlagen können . Kai war die Erleichterung, darüber das er einige Schritte beiseite gegangen war, deutlich anzusehen. Kleinere Körner fielen durch das Loch im Dach und der Wind pfiff unangenehm und wild in die Baracke. „Das werden wir schnellstmöglich reparieren müssen.“, rief Jonas.
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