Nora antwortete, während sie neugierig auf Sarah blickte: »Danke Dr. Dalberg. Heute ist ein wundervoller Tag. Ich glaube, dass das Medikament langsam zu wirken scheint. Noch keine Musik, seit ich aufgestanden bin. Großartig.«
»Darf ich dir unsere neue Mitarbeiterin Sarah Winter vorstellen. Sie wird mich in Zukunft bei der therapeutischen Betreuung entlasten, so dass mir etwas mehr Zeit für meine Forschungsaufgaben bleibt.«
Nora, eine hübsche junge Frau von etwa zwanzig Jahren, gab Sarah artig die Hand und lächelte, erwiderte aber nichts und vertiefte sich sofort wieder in die Zeitschrift. Als sie weitergegangen waren, sagte Dalberg zu Sarah: »Es handelt sich bei Nora Andrews um eine Patientin, die unentwegt Musik hörte, ohne dass es wirklich Geräusche in ihrer Umgebung gab. Teilweise so laut, dass sie kein Gespräch mehr führen konnte. Sie war so stark beeinträchtigt, dass ein Leben außerhalb der Klinik unmöglich gewesen wäre.«
»Ja, ich erinnere mich jetzt, was in der Akte stand« erwiderte Sarah. »Sie hörte immerzu einen monotonen Rhythmus. Dazu Gesang von einer unangenehm, fast schmerzhaft hohen Stimme, ohne dass es irgendeine sinnvolle Textzeile enthielt. Seltsam.«
»Ja, das ist es. Aber dies ist wohl die verbreitetste Form von Halluzinationen, bei der die Menschen Musik hören oder auch Stimmen. Im einfachsten Fall handelt es sich um Tinitus-Geräusche, also ein Piepsen im Ohr. Wir haben es hier mit einer kortikalen Aktivität zu tun. Man könnte es auch eine musikalische Epilepsie nennen, bei der eine bestimmte Stelle der Hirnrinde angeregt wird. Bereits Wilder Penfield hat bei zahlreichen Versuchen durch Stimulation der Hirnrinde von Patienten mit ähnlichen Symptomen an unterschiedlichen Stellen die verschiedensten auditiven Reaktionen hervorrufen können.« Dalberg räusperte sich kurz, als habe er selbst bemerkt, dass er unbewusst zu dozieren begonnen hatte. »Ich habe Nora krampflösende Mittel verabreicht, die offensichtlich die Halluzinationen zum Verstummen bringen. Sie wird die Klinik bald verlassen können.«
Der nächste Patient, den sie aufsuchten, war Robert Donovan, ein etwa vierzigjähriger abgemagerter Mann, der sich unter seinem Bett versteckte, als sie angeklopft und die Tür geöffnet hatten. »Sie sind schon wieder drin!«, rief er voller Ärger. »Helfen Sie mir, sie aus dem Schrank herauszuholen Dr. Dalberg.« Er bedachte Sarah mit einem ängstlichen Blick und fragte: »Wer ist die denn? Ist sie eine von denen?«
Dalberg beruhigte ihn und band Sarah gleich geschickt mit ein: »Nein Robert, sie ist auf unserer Seite und wird uns in Zukunft helfen, die Chiopteren fernzuhalten. Nicht wahr Sarah?« Sarah wusste nicht so recht, wie ihr geschah, wusste auch nicht wirklich, was ›Chiopteren‹ sein sollte, nickte aber eifrig und versuchte, einen zuversichtlichen Blick an den Tag zu legen. In der Zwischenzeit hatte sich Dalberg an den Schrank herangepirscht und öffnete ihn langsam, aber ohne zu zögern. »Sind sie noch drin?«, fragte Donovan hoffnungsvoll. »Du weißt doch, dass ich sie nicht sehen kann, Robert. Nur du kannst nachschauen, ob sie noch drin sind.« Donovan kroch unter dem Bett hervor und lugte vorsichtig um die Schranktür. Er schrie auf und raufte seine Haare, die danach in alle Richtungen standen, so dass er selbst aussah wie ein wildgewordener Kobold. »Da sind sie noch! Drei Kerle sind da drin und grinsen mich unverschämt an. Wirf sie raus Dr. Dalberg. Wirf Sie raus!«
Dalberg schlug den Schrank wieder zu und verriegelte anschließend die Tür. »Da ich sie nicht sehen kann«, meinte er, »werde ich sie auch nicht erwischen. Aber jetzt sind sie im Schrank eingesperrt und können nicht mehr raus. Wir werden den Schrank nach draußen bringen. Dann bist du sie los. Was hältst du davon Robert?«
»Gute Idee!«, rief Donovan und schlug zur Bestätigung mit der Faust auf den Tisch, dass der ganze Raum erbebte. Dalberg drückte auf einen Schalter und Sekunden später erschien ein Mitarbeiter. Ein kurzer Blick auf den Schrank und die Tür genügten. Als der Schrank draußen war, blickte Donovan dankbar zu Dalberg. »Denen haben Sie’s aber mal wieder gezeigt. Danke Dr. Dalberg.« Er ließ sich geräuschvoll auf sein Bett fallen und wirkte völlig entspannt.
Draußen erklärte Dalberg: »Bei Robert Donovan handelt es sich um einen ausgeprägten Fall von Schizophrenie mit visuellen Halluzinationen. Er nimmt Wesen in seiner Umgebung wahr, die andere einfach nicht sehen können. Häufig wird er von ihnen geärgert. Dann entstehen Situationen wie eben. Man kann ihm aber kein Theater vorspielen. Wenn ich so getan hätte, als ob ich sie auch sehen würde, dann hätte er das sofort gemerkt. Für ihn sind die Wesen genauso real vorhanden wie du und ich und sie spielen ihm auch reale Streiche. Die einzige Methode damit umzugehen ist die beiderseitige Anerkennung des Problems. Er sieht etwas und akzeptiert, dass ich es nicht sehe. Ich akzeptiere, dass er etwas wahrnehmen kann, was ich wiederum nicht sehe.«
»Was meinst du Roman, kann man ihn irgendwann heilen?«
»Ich bin mir nicht sicher? Man müsste tiefer in seine Welt vordringen, um das entscheiden zu können. Er ist jedoch noch einer der harmloseren Fälle.« Wie zur Bestätigung seiner Worte klingelte plötzlich eine Alarmglocke und der Flur war unversehens gefüllt mit weißen Kitteln, die etwas ratlos dreinblickend nach der Ursache für den Alarm suchten. Ein Assistent kam auf Dalberg zugelaufen und berichtete noch völlig außer Atem: »Es ist Takeda, Herr Dalberg. Schrecklich. Sie müssen es sich selbst anschauen.« Dalberg rannte den Flur entlang, während Sarah ihm auf dem Fuß folgte. Vor einer der Türen hatte sich schon eine weiße Kittelwolke gebildet, die sich nun langsam teilte, um Roman Dalberg Zugang zu dem dahinter liegenden Zimmer zu verschaffen. Dalberg blieb wie angewurzelt stehen und schaute entgeistert auf die Szene, die sich ihm bot. Auf dem Boden lag ein Mann mit merkwürdig verkrampfter Haltung.
Der Mann war etwa dreißig Jahre alt, hatte asiatische Gesichtszüge und trug Jeans, ein einfaches T-Shirt und war barfuß. Seine glasigen Augen starrten zur Tür und in seinem Gesichtsausdruck lag irgendwie noch so etwas wie Erstaunen. Seine linke Hand war leicht geöffnet. Es schien, als sei er aus großer Höhe abgestürzt. Aber das Zimmer hatte eine Deckenhöhe von kaum drei Metern.
Ich drückte auf die Klingel und wartete auf eine Reaktion. Erst nach einem zweiten Versuch hörte ich, dass ein paar Stockwerke über mir ein Fenster geöffnet wurde. Ich trat zwei Schritte zurück und blickte nach oben. Ein Gaubenfenster war geöffnet und eine junge Frau schaute mir entgegen. »Ja, bitte?« »Ich bin mit Patrick verabredet, bin ich hier richtig?«, schickte ich meine Anfrage nach oben. »Du musst Gerald sein«, rief sie nach unten. »Patrick ist im Pool. Warte, ich werf’ dir den Schlüssel ’runter. Die Haustür ist abgeschlossen. Es ist der mit dem blauen Bändchen.«
Ehe ich mich versah, raste mir schon wieder etwas aus dem obersten Stockwerk entgegen. Ich sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, um einen weiteren Unfall mit möglicherweise tödlichem Ausgang zu verhindern. Der Schlüssel war jedoch in einem weichen Säckchen verpackt und landete wohlbehalten vor meinen Füßen. Das Fenster wurde geschlossen und ich machte mich auf den Weg nach oben. Das Treppenhaus war typisch für ein Mietshaus aus der Gründerzeit. Eine Holztreppe mit stark ausgetretenen Stufen wand sich unter meinen Schritten ächzend hinauf in die Dunkelheit. Ein breiter Absatz, jeweils auf der Höhe eines halben Stockwerks, gab durch ein großzügiges Fenster mit weiß gestrichenem Fensterkreuz den Blick frei auf einen beängstigend engen Hinterhof. Große Namensschilder und die abgelegten Schuhe zeugten von den Bewohnern hinter den Wohnungstüren. Die Wohnung unter dem Dach hatte jedoch keine Tür und die Treppe mündete geradewegs in einen großen Flur, der mit allerlei Gerümpel und einem großen Sofa ausgestattet war. Aus dem Halbdunkel in der Ecke erhob sich eine Gestalt aus einem wuchtigen Sessel und entpuppte sich als die gleiche junge Frau, die mir den Schlüssel herunter geworfen hatte. »Hallo Gerald. Ich bin Daria. Patrick hat mir erzählt, dass du kommen würdest. Er ist noch im Pool beschäftigt, wird aber sicher gleich fertig sein und dann wird er Zeit für dich haben. Setz dich doch so lange zu mir in die Küche. Ich habe mir gerade einen Tee gekocht. Möchtest du auch eine Tasse?« Ich folgte ihr in die Küche und setzte mich zu ihr an den Tisch. Den Tee lehnte ich jedoch dankend ab, da ich gerade eben den Vanilletee im Buchladen getrunken hatte. »Wie kommt es, dass ihr hier im fünften Stock einen Pool habt? Hält die Decke das Gewicht denn aus?« Daria sah mich einen Moment lang erstaunt an, fing dann aber an zu lachen und sagte: »Ach Mann, du hast geglaubt ich würde von einem Swimmingpool reden. Coole Idee. Nein, er ist in seinem VR-Tank und testet gerade eine neue Simulation. Wir sagen aber einfach Pool dazu. Ich dachte du wüsstest das.«
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