Emma Vall
Vor dem großen Knall
Ein Krimi aus Schweden
Aus dem Schwedischen
von Dagmar Brunow
Saga
Diese Geschichte spielt in Enskede, einem südlichen Vorort von Stockholm. Die Straßen, Gebäude, die Schule und die nähere Umgebung Enskedes bilden den Schauplatz für die fiktive Handlung des Romans. Sämtliche Charaktere sind erfunden, sie haben keine Entsprechung in der Wirklichkeit. Eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen und Ereignissen sind nicht beabsichtigt.
Vielen Dank an Elin, Ellen und Emil für kluge Anmerkungen und an August Wiklung für seine nützlichen Ratschläge.
Emma Vall
Der Geruch von Schweiß und Staub zog durch die Luft. Beim genaueren Hinschauen konnte man erkennen, wie sich die Ringe im Luftzug leicht bewegten. Die Sprossenwand warf gestreifte Schatten an die Wand. An der aufgestellten Gummimatte hockte eine Person, deren Rücken durch das lange Anlehnen feucht geworden war. Wenn die Turnhalle leer war, schien die Zeit stillzustehen. Doch die Morgendämmerung wich allmählich einem neuen Tag, und wenn bald der Schultag begann, würde alles immer noch genauso hoffnungslos sein wie zuvor. Länger sitzen zu bleiben war unmöglich. Die Gummisohlen quietschten, als sich die Füße gegen den Boden stemmten und sich der steife Körper mühsam hochhievte. Unter dem Basketballkorb lagen zu kleinen Bällen zerknüllte Papiere. Wichtige Schreiben von der Rektorin. Zum Brüllen. Worte ohne Inhalt und Bedeutung.
Die Schuhe hinterließen schwarze Striche auf dem Boden, um den der Sportlehrer solche Angst hatte. Die neue Regelung würde zur Folge haben, dass noch viel mehr solcher Striche den Turnhallenboden verunstalteten. Aber das schien niemanden zu kümmern.
Warum nicht das Unvermeidliche beschleunigen? Alle aufrütteln, sie wecken, nicht feige ausweichen. Der Schweiß auf dem Rücken wurde kühl. Steife Finger und rote Hände sammelten das zusammengeknüllte Papier auf. Es könnte bald heiß werden hier, unerträglich heiß. In den Umkleideräumen stand eine Kiste mit liegen gebliebenen Kleidungsstücken, die zusammen mit dem Papier gut brennen würden.
Das war nur eine erste Warnung. Ein schwelendes Anzeichen von Unzufriedenheit.
Svala rannte über die Straße in Richtung Schulhof. Als sie noch bei ihrem Bruder Pétur im Malmgårdsvägen gelebt und jeden Morgen die U-Bahn genommen hatte, war es ihr leichter gefallen, pünktlich zu sein. Jetzt, seit sie um die Ecke wohnte, kam sie fast immer erst auf den letzten Drücker.
Nesima und ihre Clique schlenderten über den Handelsvägen. Sie schienen alle Zeit der Welt zu haben. Hasim kickte seine Zigarette in Svalas Richtung. Seit Anfang der neunten Klasse waren dies ihre neuen Mitschüler. Svala wusste, dass sie sich Mühe geben sollte, sie zu mögen, aber das tat sie nicht. Birgitta Knapp, die neue Rektorin, hatte die Idee gehabt, dass die Jugendlichen aus Enskede-Dalen mit den Jugendlichen in Alt-Enskede zusammen unterrichtet werden sollten. Integration nannte sie das und hatte trotz aller Proteste rund dreißig Schülerinnen und Schüler aus der Dalen-Siedlung in die Enskede-Schule aufgenommen.
Zu Péturs Schulzeit waren diejenigen Schüler, die nicht schwedisch aussahen oder ungewöhnliche Namen hatten, fast alle Adoptivkinder gewesen. Svala musste an Lisa denken, die ihren chilenischen Namen absolut nicht benutzen wollte. Es gab auch ein paar, deren Eltern Einwanderer waren, aus Ungarn oder Italien, und deren Familien schon lange in Schweden lebten. Und dann gab es natürlich Svala und Pétur selbst, mit ihrer isländischen Mutter Aisa. Aber Einwanderer aus den anderen skandinavischen Ländern wurden sowieso als Schweden angesehen, hatte Svala festgestellt. Wären ihre Eltern aus der Türkei oder dem Iran hergekommen, hätte sie größere Schwierigkeiten gehabt.
Sie wusste, dass sie sich bemühen sollte, Nesima, Hasim und die anderen näher kennenzulernen, jedenfalls bis zum Ende des Schuljahres halbwegs mit ihnen klarzukommen. Aber sie ging ihnen aus dem Weg. Wenn sie ehrlich war, hatten ihr in der letzten Zeit manche Situationen in der Schule Angst gemacht. Hass lag in der Luft.
In ihrem neuen Zimmer unter dem Dachfirst im Stora-Gungans-Väg, wo nur ein Bett, ein kleiner Schreibtisch und ein großer, alter dunkelroter Samtsessel Platz fanden, hatte sie ein Zitat an die Wand gepinnt. Es stammte von Nietzsche: »Wer einst den Blitz zu zünden hat, muss lange Wolke sein!«
Im letzten Sommerhalbjahr hatte sie sich beinahe wie ein Blitz gefühlt. Als sie nach der Scheidung ihrer Eltern mit Pétur zusammenwohnte und nach ein paar Anfangsschwierigkeiten gut allein zurechtgekommen war. Damals hatte sie das Wolkenhafte eine Zeit lang hinter sich gelassen und war sie selbst gewesen.
Jetzt bin ich wieder eine Wolke, dachte Svala, eine kleine, wollige Wolke, die keiner sieht. Sie hatte zumindest eine Ahnung davon, was es hieß, als Blitz einzuschlagen. Sie wusste, wonach sie sich sehnte.
Heute ging sie voller Vorfreude zur ersten Stunde. Ihr Englischlehrer Satya Dipraborty, genannt Dip, kam aus Indien. Er war schwer in Ordnung. Vor einem Jahr war er neu an ihre Schule gekommen, voller Engagement und mit unzähligen Plänen. Svala freute sich über die Anmerkungen, die er ihr unter ihre Englischaufsätze schrieb. Unter ihren Schwedischaufsätzen standen immer nur herablassende Kommentare, dass sie nichts als Teenagergeschwätz zu Papier brächte. Dip dagegen nahm ihre Texte ernst. Endlich bekam sie auch in Englisch eine Eins.
Mama war von der Idee der neuen Rektorin natürlich begeistert gewesen: »Endlich lässt sich diese verstaubte Schule mal was Sinnvolles einfallen«, hatte Aisa gesagt, als Svala ihr von den neuen Mitschülern erzählt hatte. Svala hatte ihr gegenüber bisher kein Wort darüber verloren, wie anstrengend sie die Neuen fand. Sie schämte sich für diese Gefühle.
Andererseits hatte sie Aisas psychologische Erklärungen satt. Es nervte sie total, dass sich Nesima im Klassenzimmer ständig unterhielt, dass Fatimah immer so sauer guckte, Sozan so frech war, Hasim so selbstherrlich und Ali so faul. Die Integration, von der die Rektorin geträumt hatte, fand nicht statt. Stattdessen bildeten die Dalener eine feste Gruppe. Auf dem Schulhof passierten eine Menge Dinge, von denen die Lehrer keine Ahnung hatten.
Svala ging nun langsamer, um hinter Nesima, Hasim und den anderen zurückzubleiben. Sie wollte nicht mit anhören, wie man ihr »Scheißschwedennutte« hinterherrief. Einmal hatte sie zurückgeschrien – mit der Folge, dass die Dalener ihr danach bei jeder Begegnung den Finger zeigten und sie als Rassistin beschimpften.
Svala spürte, wie die Wut in ihr hochstieg, und rannte impulsiv an der Clique vorbei auf den Schulhof, um rechtzeitig zum Unterricht zu kommen und sich nicht mit ihnen durch das Gedränge im Treppenhaus schieben zu müssen.
Nach Englisch war Schwedisch an der Reihe. Britt Magnell stand am Pult und trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. Die Lehrerin verabscheute, dass die Ordnung, die sie in der Klasse durchgesetzt hatte, von den lauten neuen Schülern zerstört wurde, denen die festen Regeln, die in ihrer Stunde herrschten, egal waren. Eine kleine Gruppe von Lehrern hatte an der Schule lange den Ton angegeben. Das war allgemein bekannt. Neben Britt Magnell gehörte der Französischlehrer Magnus Smedjegård dazu, der mit seiner Ironie und seinen fiesen Tests die Schüler in Angst und Schrecken versetzte, und außerdem der Mathematiklehrer Göran Svanberg, der den Schülerinnen nie in die Augen sah, sondern nur auf die Brüste.
Svala hatte Aisa nie von alldem erzählt. Eltern wollten nicht an ihre Schulzeit erinnert werden. Sie wollten die Schrecken von damals vergessen, sie wollten nicht wissen, wie die Lehrer ihre Macht ausnutzten, sobald sich die Tür zum Klassenraum schloss. Beim Elternabend saßen Lehrer und Eltern lächelnd da und taten so, als wäre alles in bester Ordnung. Mit Aisa war es genauso.
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