Aber irgendwie passte das alles gut zu Svalas Gemütsverfassung. Am liebsten hätte sie sich in Aisas Armen verkrochen und ihren Kopf an Aisas Hals geschmiegt, wo die Haut ganz weich war, und wäre noch einmal eingetaucht in die Geborgenheit der Kindertage.
Wenn sie aber diesem Impuls nachgab, würde das Aisa in ihrer Annahme bestätigen, alles sei noch genauso wie vor ihrer Abreise nach Island und Svala wäre immer noch ein Kind. Das wäre ein schlimmer Rückschritt. Svala wollte erwachsen sein, wollte, dass man ihr zuhörte und vertraute. Sie wollte jemand sein, der Nein sagen kann. Jemand, der sich nicht mehr fiesen Lehrern beugen muss.
In der Ferne rauschte der Verkehrslärm. Doch Svala lauschte dem Wind, der in den Bäumen spielte. Sie wurde ruhiger. Um sie herum war es friedlich.
Plötzlich hörte sie direkt vor dem Zelt einen dumpfen Aufprall. Svala versuchte, durch die Zeltplane Umrisse zu erkennen, konnte aber nichts sehen. Von bösen Ahnungen gepackt sauste sie die Tribüne herunter. Einen kurzen Augenblick überlegte sie, ob sie sich anschleichen sollte, aber sie wollte lieber Krach machen und die Gefahr vertreiben.
Schnell schlüpfte sie durch die Zeltöffnung und lief um das Zelt herum, während sie aufpasste, nicht über die aufgespannten Seile zu stolpern. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie jemand schnell zwischen den Bäumen in Richtung Schule verschwand. Der dunkle Schatten war unmöglich zu identifizieren. Svala verlangsamte ihr Schritttempo und versuchte, durch die dünne Bepflanzung zu spähen.
Als sie kehrtmachte, fiel ihr Blick auf eine Plastiktüte im Gras. Sie enthielt Spraydosen. Jemand hatte versucht, mit schwarzer Farbe etwas auf die Zeltplane zu sprayen.
Svala nahm die Tüte und klopfte an Katjas Wagen. Niemand öffnete. Zögernd ging sie zum Kassenwagen. Als Svala den Wagen betrat, guckte Lea, die Regieassistentin, hoch.
»Jemand wollte hier wieder sprayen.« Svala zeigte ihr die Dosen.
»Oh! Wo hast du sie gefunden?«
»Hinter dem Zelt. Ich hätte den Sprayer fast erwischt.«
»Tja, ich fürchte, die Sache muss warten, bis Katja wieder da ist. Ich rede mit ihr. Das kommt schon wieder in Ordnung. Jetzt, wo wir die Hip-Hopper dabeihaben, kommen bestimmt noch mehr Leute aus Dalen, und dann heißt es endlich nicht mehr wir gegen die . Vielleicht können wir die Sprayer sogar mit in unsere Bühnenbaugruppe aufnehmen?«
Svala ärgerte sich, dass Lea die Sache so herunterspielte. Warum glaubte nur jeder, dass sich alles von allein lösen würde? Nach Hause konnte sie nicht, weil Aisa sie geradewegs zurück in die Schule schicken würde. Wenn ihr keiner zuhören wollte, musste sie den Dingen eben selbst auf den Grund gehen. Kurz entschlossen machte sie sich auf den Weg nach Dalen. Dort waren die meisten Wände mit Graffiti bemalt. Vielleicht entdeckte sie ein Tag vom selben Sprayer.
Der Marktplatz im Zentrum von Dalen war beinahe menschenleer. Vor der Post unterhielten sich ein paar Rentner. Svala kam sich dämlich vor. Was nützte es ihr, wenn sie das Tag fand, das auf die Wagen gesprayt war? Wenn sie sich nicht erkundigte, würde sie trotzdem nicht wissen, wer dahintersteckte.
Als sie im letzten Frühjahr zur Nerzfarm auf der Insel Tynningö herausgefahren war, hatte sie Oskar, einen von Péturs besten Freunden, gebeten, sie zu begleiten. Vielleicht war diesmal Ervin an der Reihe? Auch Ervin war sehr gut mit Pétur befreundet, aber es kam ihr nicht so selbstverständlich vor, ihn aufzusuchen. Sie hatte früher fast nie mit ihm geredet, weil er meistens nur schweigend dasaß, und seit sie nicht mehr mit ihrem Bruder zusammenwohnte, hatte sie Ervin gar nicht mehr gesehen. Aber er wohnte in Dalen und war bestimmt gut informiert. Anders als Pétur war er nicht vom Gymnasium abgegangen. Doch plötzlich kam Svala ein Gedanke, der sie einen Rückzieher machen ließ. War es wirklich so klar, dass der Graffitisprayer aus Dalen kam? War es nicht einfach nur peinlich, Ervin mit dieser Unterstellung zu kommen?
Svala drehte sich um und spazierte langsam zurück. An der U-Bahn-Station begegnete sie Hasim. Sie wusste nicht, in welche Richtung sie gucken sollte. Wenn er etwas Gemeines sagte, würde sie anfangen zu heulen. Heute war so ein Tag. Aber er lächelte und grüßte sie mit einem Nicken, bevor er schnell weiterging.
»Wo willst du schon wieder hin? Du bist doch gerade erst nach Hause gekommen.« Aisa musterte Svala über ihre Lesebrille hinweg. Ausnahmsweise saß sie vor dem Fernseher. Neben ihr stand eine leere Teetasse und auf dem Tisch lag eine achtlos hingeworfene Bananenschale.
»Nur den Schlafsack holen. Ich halte heute Nacht beim Zelt Wache.«
»Wache halten?« Aisa war entsetzt. »Mit fünfzehn!«
»Natürlich nicht allein«, sagte Svala. »Wir sind zu mehreren.« Sie sagte nicht, dass Malin, mit der sie Wache halten würde, genauso alt war wie sie.
»Außerdem schläft Katja in ihrem Wagen, also mach dir keine Sorgen.«
Das war eine glatte Lüge, denn Katja verbrachte die Nacht auf Tynningö, aber das brauchte Aisa ja nicht zu wissen. Svala fand, dass man Eltern gelegentlich vor der Realität bewahren musste.
»Das erlaube ich auf keinen Fall!«, brauste Aisa auf. »Du bleibst zu Hause. Du bist jetzt tagelang abends unterwegs gewesen.«
»Du meine Güte, wir proben ja schließlich auch. Da kommt man nach einer ewig langen Probe abends nach Hause und du schreist nur«, sagte Svala.
Auf Aisas Wangen hatten sich vor Ärger kleine rote Flecken gebildet.
»Ich ruf jetzt diese Katja an. Die ist ja völlig verantwortungslos. Wie lautet ihre Telefonnummer?«, sagte sie und hob den Hörer.
»Du rufst da nicht an und sie ist auch nicht verantwortungslos. Was ist bloß los mit dir? Spinnst du jetzt total?«, schrie Svala zurück. »Glaubst du, ich bin erst sieben und kann nicht auf mich selbst aufpassen? Was denkst du denn, was ich in dem Jahr gemacht hab, als du auf Island warst? Du kannst mir gar nichts verbieten!«, rief sie und rannte nach draußen.
Auf dem gesamten Weg zum Margaretapark war Svala stinkwütend. So ein Mist, jetzt hatte sie nicht einmal etwas zu essen dabei, außer der Tüte Chips, die sie vorhin schon in ihre Umhängetasche gestopft hatte.
Svala ging langsamer und ließ sich von dem frischen Wind abkühlen. Aisa war bestimmt nur deshalb sauer, weil sie sich einsam fühlte, aber Svala war kein Schmusekissen, das man nach Belieben hervorkramen oder wegräumen konnte.
Es würde bestimmt Spaß machen, mit Malin aus der Parallelklasse Wache zu halten. Sie sollten in der Nacht abwechselnd um das Zelt herumgehen, um sicherzustellen, dass nichts passierte. »Höchstwahrscheinlich bleibt es ruhig«, hatte Katja gesagt. »Wenn die Ton- und Lichtanlagen geliefert werden, wird es schlimmer, wegen der Diebstahlgefahr.«
Svala dachte an den Sprayer, beschloss dann aber, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen.
Die Chipstüte war fast leer. Svala fühlte sich pappsatt. Hätte sie sich bloß lieber Obst mitgebracht! Ihre Bücher hatte sie fast gar nicht aufgeschlagen. Morgen stand in Französisch und Englisch ein Test an und sie würde nur wenige Stunden Schlaf bekommen.
Malin war bereits eingeschlafen. Erst um drei würde sie Svala ablösen. Bis dahin dauerte es noch zwei Stunden, wenn Svala sich überhaupt so lange wach halten konnte. Die Kälte kroch ihr die Beine hoch und sie fror trotz ihres dicken Islandpullis, den sie zur großen Enttäuschung ihrer Mutter sonst nie trug. Obwohl der Mai schon gekommen war, herrschte noch eisige Kälte.
Svala sollte eigentlich einen Kontrollgang ums Zelt machen, aber das ungemütliche Wetter schreckte sie ab. Der Wind heulte um den Zirkuswagen, in dem sie Wache hielten. Sie hörte, wie der Sturm an der Zeltplane rüttelte. Aber konnte sie sicher sein, dass es wirklich nur der Wind war? Malin schnarchte leise. Svala beobachtete sie und fühlte sich einsam.
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