Nur zögernd hat sich zwischen Verehrern und Verächtern Lehmanns unvoreingenommene Geschichtsschreibung angebahnt. Diese Entwicklung wird im Folgenden dargestellt, und sie ist einerseits ein Spiegelbild des Verhältnisses von Juden und nichtjüdischen Deutschen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, andererseits zeigt sie, methodisch gesehen, den Wandel im Umgang mit überlieferten Quellen. Das ist ein packendes Stück Mentalitätgeschichte.
Das Ehrengedenken im Memorbuch
Traditionell wurde das Bild eines ‚zu den Vätern versammelten’ Juden durch den Grabsteintext geprägt; eine ausführlichere Fassung des Ehrengedenkens findet sich im Fall Berend Lehmanns, entsprechend seiner Bedeutung als Wohltäter der Halberstädter Gemeinde und als ihr langjähriger Vorsteher, im hebräisch abgefassten Memorbuch der Halberstädter Klaus* des von ihm gegründeten Lehrhauses 9:
“Der Herr erinnere die Seele des Edlen und Vermögenden, des berühmten Fürsten und Hauptes, des großen Fürsprechers [schtadlan], des Vorstehers des Geschlechts und seiner Wohltäter, der Wohltäter des Herrn, des Obersten der Oberen der Leviten*, des ehrwürdigen Meisters, unseres Rabbis* Jissas’char Berman, Sohn des Jehuda Lema Halewi, sein Andenken zum Segen, aus Essen, 10
dessen Leben voller guter Taten war, die den Armen und Reichen, den Fernen und den Nahen galten;
der die sechs Ordnungen [der Mischna* bzw. des Talmud*] druckte und aus seiner Tasche Gold fließen ließ, da er die Thora und die sie Studierenden liebte; der die Gebote befolgte und keine böse Sache kannte;
der in Gnade ernten wird, was er an Wohltaten säte.
Der Ruhm des Libanon [gilt ihm] 11, der den vorläufigen Tempel [die Synagoge] baute, das Lehrhaus [Bet ha-midrasch], welches Fundament und Grundstein liefert.
Sein Dahinscheiden aus der Welt verursachte Aufsehen, im Palast und im Saal erweist man ihm Ehre. [...]
Die Häupter Israels 12, im Lande Polen zerstreut und verteilt, legten die Fürsprache zu ihren Gunsten in seine Hände: Vor Königen trat er auf, an ihren Höfen und in ihren Schlössern, mit reinen Händen und reinem Herzen beim Verhandeln.
Viele Waisenknaben und –mädchen hat er mit seinem Geld verheiratet [d.h. mit der notwendigen Mitgift ausgestattet]. [...]
Geboren am 24. Nissan des Jahres [5]421 [des jüdischen Kalenders, im christlich-gregorianischen Kalender: 23.4.1661], gestorben, satt an Tagen [d.h. in hohem Alter], am 24. Tammuz des Jahres [5]490 [9.7.1730]‚ ein gerechter und reiner Mensch’.
Der Herr erinnere seine Seele mit den Seelen Abrahams, Isaaks und Jakobs, Moses‘ und Arons, Davids und Salomos und mit den Seelen aller anderen Gerechten und Heiligen, die sich im Land der Lebenden befinden, und seine Seele sei eingebunden in den Bund des Lebens mit den anderen Gerechten des Weltfundaments im Paradies, Amen, Sela.“
Wie man sieht, stehen also im Vordergrund für die Gemeinde die Frömmigkeit des Residenten sowie die aus ihr fließenden religiös-institutionellen und sozialen Wohltaten für die eigene und für fremde jüdische Gemeinden sowie sein Erfolg und sein Ansehen in der christlichen Mehrheitsgesellschaft, welche es ihm ermöglichten, als Anwalt der jüdischen Gemeinschaft Einfluß auszuüben.
Legenden im „Maassebuch“
Eine zweite Chronik der Halberstädter jüdischen Gemeinde, das jiddisch geschriebene Maassebuch ist wie das Memorbuch mit den letzten Halberstädter Rabbinern nach Israel ausgewandert und bisher noch nicht übersetzt worden. 13
Aus dem wichtigen Artikel eines Urururenkels des Residenten, Emil Lehmann, über seinen Vorfahren kann man vorläufig Inhalt und Charakter des Maassebuches annähernd erschließen. 14
Danach enthält es zum Beispiel eine fromme Legende über die Prophezeiung von Lehmanns Größe schon vor seiner (fälschlich in Halberstadt angesiedelten) Geburt, und es berichtet über die mutige Erlegung eines gefährlichen Bären auf Lehmanns Geheiß und über die wundersame Errettung des großen Mannes aus einer Lebensgefahr (beides historisch nicht verifizierbar).
Benjamin Hirsch Auerbach (1808–1872)
Rezipiert worden sind die beiden oben zitierten Texte bisher nur in ihrer Spiegelung durch Benjamin Hirsch Auerbachs Geschichte der israelitischen Gemeinde Halberstadt von 1866, und in diesem seinerzeit wegweisenden, aber gerade in Bezug auf den Residenten archivalisch nur spärlich abgesicherten Buch herrscht das, was Lucia Raspe treffend die „Berend-Lehmann-Panegyrik“ 15nennt: weihevolle Verehrung.
Als typisches Beispiel sei hier nur die Anekdote angeführt, nach der Kurfürst* Friedrich III. von Brandenburg bei seiner Huldigung durch die Halberstädter Stände*, 1692, auf Lehmanns „unter lauter Baracken hervorragende[s] stattliche[s] Wohnhaus“ aufmerksam geworden sei; aus Hochachtung für den erfolgreichen „polnische[n] Resident[en]“ habe er ihm die Erlaubnis zum Druck der berühmten ersten deutschen Talmudausgabe erteilt, welche dann in 5 000 Exemplaren zum Preise von 50 000 Talern in Frankfurt an der Oder gedruckt worden sei. 16
Abgesehen davon, dass Lehmann erst fünf Jahre später, 1697, nach der Krönung Augusts des Starken (Friedrich August I. als Kurfürst von Sachsen, Friedrich August II. als König in Polen, 1670−1733), „Resident“ 17wurde und das von Auerbach gemeinte Wohnhaus erst um 1707 seinen „stattlichen“ Ausbau erfuhr, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich der Kurfürst 1692 für die Halberstädter Juden interessiert hat. Der sehr ausführliche offizielle Bericht über die Huldigung 18erwähnt davon jedenfalls nichts.
Vor allem hat nicht Berend Lehmann, sondern der christliche Frankfurter Professor Johann Christoph Beckmann das Talmud-Druckprivileg für sich und den Drucker Michael Gottschalk erwirkt, dem Lehmann es, in einer finanziellen Notsituation als Auftraggeber einspringend, 1697 abkaufte. Auch betrug die Auflage (was immer noch beachtlich ist) nur 2 000 Exemplare, dem Drucker bezahlte Lehmann nur 28 000 Taler. 19
Auerbachs Autorität in Sachen Berend Lehmann ist so groß, dass erstaunlicherweise gerade diese Angaben über die Entstehung des Talmud-Neudrucks immer wieder unkritisch übernommen wurden, so z.B. im Katalog der New Yorker Hofjuden-Ausstellung von 1996 20und in der Lehmann-Biographie für die Eröffnung der neuen Dresdner Synagoge 2001 21. Dabei waren sie bereits im Jahre 1900 von Max Freudenthal angezweifelt und teilweise korrigiert worden 22.
Auerbach hat an anderer Stelle die klare Einsicht: „Solche Apotheosen, womit in der Regel ganz nebulistische Geister als Ersatz für gründliche Charakterzeichnung [...] uns aufzuwarten pflegen, sind oft sehr ergötzlich und geeignet, fromme Gemüther zu erheben und dem Erfinder Dank zu zollen für die Wärme seines Herzens und die lebendige Phantasie, die seinen Helden so überaus schön und beneidenswerth zu verklären vermochte.“ Er hat offenbar nicht gemerkt, dass er, trotz weiser Erkenntnis im Allgemeinen, im Speziellen mit seinem Berend-Lehmann-Kapitel selbst eine solche „Apotheose“ geschaffen hat.
Psychologisch ist das gut zu verstehen: Die Emanzipation* der deutschen Juden war noch nicht einmal ganz vollendet, und die Erinnerung an die Zeiten der Ausgrenzung und Bedrückung war noch höchst lebendig. Da musste ein mutiger Vertreter der Protoemanzipation* wie der Resident als Vorkämpfer und Heiliger in strahlendem Licht erscheinen.
Marcus Lehmann (1831–1890)
Des Residenten Namensvetter, der Mainzer Rabbiner Marcus Lehmann, als Herausgeber der Zeitschrift Der Israelit führender Vertreter der jüdischen Orthodoxie*, benutzte offenbar dieselben Halberstädter jüdischen Quellen wie Auerbach, und er kannte dessen Gemeinde-Geschichte. In seinem Roman Der Königliche Resident 23(vgl. Abb. 1-2) ist Berend Lehmann nicht nur der Resident des Königs; er ist selbst eine königliche Figur. In seiner Jüdischen Volksbücherei brauchte Marcus Lehmann seiner Fantasie noch weniger Fesseln anzulegen als der Lokalpatriot Auerbach. Als Vorbild für die jüdische Jugend schildert er einen klugen und erfolgreichen, gleichzeitig aber einen bescheidenen Helden. Er malt besonders Lehmanns Eintreten für die bedrückten polnischen Glaubensbrüder in spannenden Episoden aus.
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