Es ist finster draussen, der Mond verdeckt von schwarzen Wolken. Zsófia zittert vor Kälte. Ihre Absätze machen ein einsam klickerndes Geräusch auf der menschenleeren Strasse, doch sie läuft immer schneller. Erst als sie vor dem Stadtpark steht, macht sie keuchend halt. Der Regen hat aufgehört. Zsófia zittert in ihrem tropfnassen Kleid. Die Umrisse der Bäume wirken unheimlich in der Dunkelheit. Es ist nun ganz windstill, noch nicht einmal ein Blätterrauschen. Sie fühlt sich verloren. Als sei sie der einzige Mensch auf der Welt.
Zsófia hockt sich kraftlos neben die Leitplanke an der Strasse und starrt auf die Ampelanlage, die immer wieder wechselt. Von Grün, zu Gelb, zu Rot und zurück. Mit steinernem Gesicht und ausdruckslosen Augen. Doch plötzlich beginnen ihre Mundwinkel zu zucken. Tränen schiessen jäh in ihre Augen. Zsófia schlägt die Hände vor das Gesicht und kann nicht aufhören zu weinen. Es schüttelt sie. Alles sinnlos. Karl, die Arbeit, ihr Leben. Alles.
"Was soll ich nur tun? Warum sagt mir denn niemand, was ich tun soll?!" Sie sucht in ihrer Tasche nach einem Taschentuch und steift das samtene Etwas von der Parkbank. Sie untersucht es erstaunt. Ein goldbraunes Samtdreieck mit Perlen bestickt an einem Lederband. Das Motiv scheint ein Schellenbündel zu sein. Eine Perkussion, wie sie im Mittleren Osten gespielt wird und bei den Navajo Indianern. Zsófia ist als hafte der Duft der Parkrosen an dem Amulett und unwillkürlich presst sie es an ihr Gesicht.
Ein Auto hält neben ihr an. “Zsófia, was machst du hier im Regen?”
Sie späht in den dunklen Innenraum eines Lieferwagens und erkennt mühsam das Gesicht ihres Freundes Juan. Schon öffnet Juan die schwere Beifahrertür und sie muss schnell aufspringen, weil er sogleich wieder anfährt.
Der Spanier redet lebhaft von seinem letzten Konzert und scheint nicht zu bemerken, wie einsilbig sie antwortet.Verstohlen wischt sie sich das nasse Gesicht. Juan findet im Radio einen Musiksender und so muss sie nicht mehr reden. Vor ihrem Haus will sie sich hastig verabschieden, aber Juan geht darüber hinweg und zündet sich bedächtig eine Zigarette an.
“Er macht dich unglücklich, nicht wahr?”
Zsófia schweigt.
“Er ist nichts für dich.” Juan lächelt sie freundlich an.
“Juan”, sie atmet geräuschvoll aus. “Ich stecke fest.”
Juan nickt. “Hättest nicht mit der Musik aufhören sollen.” Juans eindringlicher Blick ist ihr unbehaglich.
“Davon konnte ich nicht leben. Irgendwann muss man vernünftig werden.”
Juan nickt. “Wenn du das sagst, dann ist es wohl so.”
“Was soll das heissen?” Zsófias ist ärgerlich.
Juan scheint es nicht bemerken zu wollen und setzt sich bequem zurück. “Zsófia, ich habe Pleiten erlebt, zwei Scheidungen hinter mir, aber weisst du, was ich nie getan habe? Etwas gemacht, woran ich nicht geglaubt habe.”
Er tätschelt gutmütig ihr Knie. “Nicht einfach, sich des Lebens zu erfreuen, wenn man so damit beschäftigt ist, die Erwartungen anderer zufrieden zu stellen.”
Die Bemerkung ärgert Zsófia, aber sie mag nicht antworten. Ihre Gedanken wandern zu ihren Eltern. Natürlich wollte sie deren Erwartungen erfüllen. Welches Kind will nicht, dass die Eltern stolz auf es sind? Es gelang nur nicht jedem. Ihr Vater war ein schwieriger Mann. Hatte eine entbehrungsreiche Jugend gehabt in Budapest. War gerade 21 Jahre alt gewesen, als er von Ungarn nach Deutschland gekommen war ganz alleine. Wenige Monate nach dem gescheiterten Volksaufstand von 1956 war er gerade noch aus dem besetzten Ungarn heraus gekommen. Das mag erklären, warum er seine Wut oft nicht zügeln kann. Mag erklären, warum er trinkt. So viele schwere Erinnerungen.
Zsófia weiss, im neuen Land hatte der junge Ferenc Lakatos Hilfsarbeiten verrichtet und gleichzeitig studiert. In schäbigen Zimmern zur Untermiete gewohnt, Fremdenhass ertragen und alles gegeben, für Wohlstand und ein sicheres Leben. Schliesslich war das Leben besser geworden, die ‘Wirtschaftswunder Jahre’ waren auch zu ihm gekommen. Ein eigener Betrieb, er hatte geheiratet, ein Haus gebaut.
Ferenc Lakatos stellte Frau und Kinder an ihren Platz und tat was ‘Üblich’ war. Er schwor, seine persönliche Festung nie mehr zu verlassen und er tat es auch nicht Als Zsófia begonnen hatte, den ihr zugewiesenen Platz in Frage zu stellen, war er, der ein zorniger Mensch war, nur zorniger geworden.
Ihre Gedanken wandern zurück zu Tibor. Er hat etwa das gleiche Alter wie ihr Vater. Sie war ihm auf einer Kunstausstellungen vorgestellt worden. Das er Ungar war, hatte ihr Interesse geweckt. So waren sie Freunde geworden. Er hatte ihr von der Zeit damals erzählt, der Stimmung von Euphorie und Hoffnung in jenen Tagen im Oktober 1956, als Ungarn sich von der Sowjetunion losgesagt und eine eigene Regierung gebildet hatte. Von dem befreienden und wunderbaren Gefühl eine Gemeinschaft zu sein und etwas bewegen zu können, wenn die Menschen nur zusammen hielten. Zsófia liebt seine Schilderungen von Zivilcourage und Idealismus. Wie bedrückend mussten die Jahre danach für viele Ungarn gewesen sein. Wieder unter Sowjetischer Besatzung, schärfer bewacht und kontrolliert, als zuvor. Das war sowohl Tibor als auch ihrem Vater erspart geblieben. Warum also hatte Tibor die düsteren Bemerkungen gemacht? Er war wohl zu betrunken gewesen.
Juan scheint ihr langes Schweigen nicht zu bemerken, theatralisch schlägt er sich an den Kopf. “Natürlich, das ich daran nicht gedacht habe. Mein Freund und seine Band. Spielen Jazz Standards, weisst schon Autumn Leaves, Body and Soul, There Will Never Be Another You, Ev’ry Time We Say Goodbye.” Juan lacht. “Das ganze Repertoire. Und ein wenig Stan Getz und Astrud Gilberto ‘Girl from Ipanema’. Gute Engagements, und haben keine feste Sängerin! Da könnest du vorsingen.”
Juans erwartungsvollen Blick bringt Zsófia zum Lachen: “Und dann wird alles gut?” Juan schüttelt den Kopf: “Weiss ich nicht Zsófia, aber versuchen kannst du es doch?”
Später in ihrer Wohnung kann sie lange nicht schlafen. Gedankenschleifen wie ein zu schnell fahrendes Karussell. Es strengt sie an. In den frühen Morgenstunden schliesslich werden die Augen doch schwer und die Tiefe zieht sie herab. Mit einem Aufschrei wird sie wieder wach. Mühsam tastet sie nach dem Schalter der Nachttischlampe. - Angst vor der Dunkelheit. Von klein auf hat sie die. Als würde dieses Dunkel sie einschliessen und ihr den Sauerstoff nehmen. Angst vor der Schwärze. Angst die Augen zu schliessen, wo sie doch die Tür im Auge behalten muss. Immer wieder die fixe Idee von einer haarigen Monsterklaue, die sich langsam zwischen Tür und Rahmen schieben könnte. Geräuschlos. Sie hatte das manchmal geträumt. Im Traum war das schemenhafte Monster auf sie zugekommen und sie war ganz starr geworden. Hatte sich nicht bewegen können. Sie hatte die Starre, die sie dann ergriffen hatte genauso gefürchtet, wie das drohende Unbekannte. Weil es sie ausgeliefert hatte. Augen fest zusammen gepresst und der eigene Herzschlag so laut, dass ihre Ohren fast explodierten. Immer derselbe Traum. Und wenn sie schreien wollte, kam kein Ton aus ihrer Kehle. Der Versuch zu Schreien und es nicht zu vermögen. Entsetzliche Ohnmacht.
Sie hatte damals versucht, es ihrer Mutter zu sagen, aber die hatte nicht verstehen können, wie schrecklich dieser Traum war. Hatte es nicht hören wollen. Jetzt träumt sie diesen Alptraum nur noch selten, aber wenn sie eine ihrer Angstnächte hat, braucht sie Licht. Trotzdem hat sie dann Angst die Augen zuzumachen. Gerade schliesst sie sie, da reisst sie sie schon wieder auf und blickt panisch zur Tür. War da nicht wieder die haarige Tierklaue, die langsam und geräuschlos die Tür öffnete? Das schemenhafte Monster auf ihr Bett zu schleichend?
Zsófia steht auf und schliesst die Tür, ganz leise. Dann stellt sie einen Stuhl davor. Endlich schläft sie ein, von Traumschlaf, den Schlafforscher als hypnagogische Halluzinationen bezeichnen zu Tiefschlaf oder NREM und schliesslich zu REM-Schlaf, der Phase des Träumens. Neuropsychologe Hobson beschreibt den Traum als eine Form von Irrsinn. Aber Zsófias Traum beginnt wie ein Ferienfilm.
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