„Nehmen Sie es nicht zu schwer. Das kann ja mal passieren“, meinte Christel. „Das Beste ist, Sie fahren gleich die einzelnen Häuser ab, um sich von ihrer Lage einen Eindruck zu machen. Für Ortsunkundige ist Carvoeiro oft ein Labyrinth. Unsere Häuser mit den ungeraden Zahlen liegen alle östlich vom Ortskern. Die Urbanisationen heißen Rocha Brava und Algarve Clube Atlantico. Die geraden sind westlich im Carvoeiro Clube. So können Sie sich schon mal grob orientieren. Also hier sind die Autoschlüssel. Das Auto steht vorne auf dem Parkplatz. Sie können es an der Aufschrift „Christel & Teresa“ erkennen.“
Vera nahm die Schlüssel und war dankbar, das Büro verlassen zu dürfen. Sie hoffte, dass ihr zweiter Anlauf später besser glücken würde.
Vor dem Haus stand ein weißer VW Polo mit der Aufschrift „Christel & Teresa. Hausverwaltung - Property Management“. Vera stieg ein und fuhr los.
Östlich waren die Häuser mit den ungeraden Zahlen, hatte Christel gesagt. Östlich, das sagte sich so leicht. Im Osten ginge die Sonne auf, kombinierte Vera. Es war vormittags. Also musste sie der Sonne entgegenfahren. Als sie aus der Parkbucht heraus fuhr, merkte sie, dass die Rua Barranco eine Einbahnstraße war. Die Straße bestimmte die Richtung und nicht Sonne, Mond und Sterne. Christel musste Carvoeiro mit dem offenen Meer verwechselt haben, dachte Vera und versuchte trotz widriger Straßenverläufe die Sonne nicht aus den Augen zu verlieren. Als sie den Platz beim Dorfstrand erreicht hatte, bot sich ihr eine lange Straße gen Osten an, ebenso lang wie die Rua Barranco.
Wäre ihr Mann dabei gewesen, hätte er sein Vorurteil, dass Frauen keinen Orientierungssinn hätten, bestätigt gesehen, dachte Vera. Aber er war nicht dabei. Wäre er dabei, hätte sie keine Häuser aufgesucht, und wenn, wäre sie Beifahrerin gewesen. Wie sollte eine ewige Beifahrerin auch einen Orientierungssinn entwickeln können?
Vera genoss es, endlich wieder ein Auto zu haben. Die vierzehn Tage ohne Auto waren sehr beschwerlich gewesen. Zu Fuß oder mit dem Bus. Mehr Alternativen hatte sie nicht gehabt. Aus Kostengründen war ein Taxi für sie nicht in Frage gekommen. Zwar hatte sie sich in ihrer Ehe ein eigenes Sparbuch angelegt, aber ohne frische Geldzufuhr war auch dieses Guthaben endlich. Natürlich hatte sie auch Zugriff auf das gemeinsame Girokonto. Aber darauf wollte sie nur in äußersten Notfällen zurückgreifen. Denn an den Kontoauszügen hätte er nachvollziehen können, wo sie sich aufhielt. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren.
Zunächst kam sie nicht schnell voran. Autos parkten in der zweiten Reihe und behinderten den Verkehr ebenso wie die ein- und ausparkenden. Die Feriensaison hatte begonnen, dachte Vera mit Genugtuung, weil ihr neuer Job auf diese Weise gesichert war. Langsam lichtete sich der Verkehr, und die Bebauung wurde dünner. Links sah sie einen großen gelb gestrichenen Hotelkomplex, der seinen Namen in großen Buchstaben kundtat: „Mirachoro“. Vera grübelte, was dieses Wort bedeutete, und dachte, dass sie portugiesisch lernen müsste, wenn sie hier länger bliebe.
Die Straße schlängelte sich an der Küste entlang und eröffnete immer wieder einen schönen Ausblick aufs Meer. Als sie rechts den Hinweis auf Rocha Brava sah, bog sie ein. Langsam fuhr sie durch die Siedlung, um die Häuser, für die sie demnächst zuständig sein sollte, zu suchen. Zuerst sah sie nur Reihenhäuser und zweifelte, ob sie in der richtigen Urbanisation war. Denn die von ihr zu betreuenden Häuser mussten alleinstehend und groß sein. Das Haus der Müllers zum Beispiel mit seinen vier Schlafzimmern war in dieser Siedlung Rocha Brava.
Ein Schild „ocean villas“ nährte in ihr die Hoffnung auf größere Villen, und sie hatte sich nicht getäuscht. Links ragten stattliche Häuser in die Höhe, direkt am Meer, große Prachtbauten mit üppigen Gärten, in denen alte Pinien und Palmen standen. Hier ließe es sich leben, dachte Vera und erinnerte sich, dass sie mit ihrer Familie auch in solchen Villen Urlaub gemacht hatte. Heute backte sie kleinere Brötchen, war Dienstspritze, wie Monika gemeint hatte.
Die Häuser in ihrer Liste hatten alle Namen wie Casa Palmeiras oder Vivenda Sol. Also fuhr Vera die Häuserzeile langsam ab, um das Haus der Müllers, Casa Palmeiras, zu finden. Dann sah sie es. Das Haus war weiß gestrichen und hatte gelb umrandete Fenster. In der geöffneten Doppelgarage sah Vera einen silbernen S-Mercedes. Den Müllers schien es gut zu gehen, dachte sie, als sie ausstieg, um sich das Haus näher anzusehen.
„Kann ich was für Sie tun?“
Eine Frau kam auf sie zu.
„Guten Tag. Ich komme von der Hausverwaltung und versuche mich gerade ein wenig hinsichtlich der Lage der Häuser zu orientieren. Sie sind Frau Müller?“, sagte Vera.
„Ja, Elvira Müller. Sind Sie Teresa? Die Christel haben wir nämlich schon kennen gelernt“, sagte Elvira.
Sie war eine äußerst auffallend geschminkte Frau. Die roten Lippen stachen aus ihrem Gesicht hervor. Die superblonden Haare waren so hoch toupiert, wie Vera es lange nicht mehr gesehen hatte. Ein grell orangefarbenes Sommerkleid rundete das farbenfrohe Bild ab.
„Nein. Ich bin Vera van Berg und fange im Mai bei der Hausverwaltung als Gästebetreuerin an. Auch dieses Haus gehört zu meinem Betreuungsbereich. Darum stehe ich hier so neugierig. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie gestört haben sollte“, sagte Vera.
„Die Christel hat uns schon gesagt, dass eine neue Betreuerin kommen wird. Schön, dass wir uns kennen lernen. Von nun an müssen wir uns wohl an Sie wenden, falls irgendwas sein sollte. Oder?“
„Ja, das stimmt“, antwortete Vera. „Ich gebe Ihnen schon einmal meine Handynummer, damit Sie mich im Falle eines Falles auch erreichen können.“
Elvira nahm den Zettel mit der Telefonnummer und fragte, ob sie sich das Haus ansehen wolle. Vera stimmte freudig ein, weil sie ohnehin alle Häuser von innen kennen lernen musste. Wie sollte sie ansonsten die Arbeit der Putzfrauen überwachen?
Das Haus hatte eine große Empfangshalle, in der Veras Apartment zweimal Platz gefunden hätte. Von der Halle aus ging eine Treppe nach oben und eine nach unten.
„Hat das Haus einen Keller?“, fragte Vera.
„Das Haus ist ganz unterkellert. Wohl ungewöhnlich für diese Gegend, aber ganz angenehm. So kann man den Wein gut temperiert aufbewahren“, antwortete Elvira.
Vera nickte. Sie gingen ins Wohnzimmer, das erwartungsgemäß noch größer und mit gediegenen Holzfiguren geschmückt war. Dort standen Elefanten aus Holz, aber auch schlanke Frauenfiguren. Eine lange Fensterfront öffnete den Blick aufs blaue Meer. Hier hielte sie es auch aus, dachte Vera und schaute sich interessiert um.
„Wollen Sie die Schlafzimmer auch sehen?“, fragte Elvira.
„Wen haben wir denn da?“.
Eine männliche Stimme durchdrang den Raum, und Vera drehte sich nach ihr um. Vor ihr stand ein braungebrannter, äußerst athletischer Mann. Mit dem würde ich das Haus auch teilen, fiel Vera spontan ein.
„Darf ich vorstellen. Das ist mein Mann Reiner. Und die nette Dame, Schatz, ist Vera van Berg. Sie hat von der Hausverwaltung die Betreuung unseres Hauses übertragen bekommen. Du erinnerst dich sicherlich, dass Christel so etwas schon angedeutet hat“, erklärte Elvira.
„Angenehm. Was gehört denn alles zur Hausbetreuung? Auch die Pflege des männlichen Inventars?“, amüsierte sich Reiner und reichte Vera die Hand.
„In gewisser Weise schon“, meinte Vera. „Falls Sie Wünsche an die Verwaltung haben, dann bin ich auch für das männliche Inventar zu-ständig. Für das weibliche Inventar allerdings auch.“
„Elvira und ich werden uns Sie also teilen müssen. Wird schon klappen. Darf ich Ihnen den Rest des Hauses zeigen?“, fragte Reiner.
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