„Mein Samstag war interessant“, beantwortete Nico die Frage und stellte die Tasse auf seinen Schreibtisch. „Ich arbeite an einem neuen Projekt.“
„Du arbeitest zu viel. Männer in deinem Alter sollten eine hübsche junge Frau an ihrer Seite haben, die sie den ganzen Stress hier vergessen lässt.“
„Mach dir keine Sorgen. Mein neues Projekt ist eine hübsche junge Frau, die leider völlig verwöhnt und arrogant ist. Ich denke, ein Einblick in das wahre Leben könnte ihr nicht schaden. Und was meinen Job und den Stress, den er mit sich bringt, angeht: ich arbeite sehr gerne hier. Wenn wir nur eine Einzige retten können, ist das jeden Stress wert.“
„Du bist zu gut für diese Welt.“
„So wie du. Du machst das immerhin schon fast dreißig Jahre.“
„Ja, ja, wir müssen unseren Beruf wirklich lieben“, seufzte Paula.
„Das tun wir. Und dein Kaffee macht ihn noch erträglicher.“ Nico zwinkerte ihr zu und stellte amüsiert fest, dass Paula rot wurde. Schnell verließ sie sein Büro.
Nico setzte sich und nahm sich Astrids Akte vor, eine Zwölfjährige, die niemals wirklich eine Chance gehabt hatte. Ihre Mutter war bereits drogenabhängig, als sie mit Astrid schwanger wurde. Der Vater war unbekannt. Astrid verdankte ihr Leben einer aufmerksamen Nachbarin, der aufgefallen war, dass „die Nutte“ von nebenan nicht mehr fett war. Sie hatte das Jugendamt benachrichtigt, und die hatten das Baby fast verhungert und verdurstet, völlig verdreckt aus der Wohnung geholt. Astrid geriet in die Mühlen der Bürokratie. Trotzdem hatte sie Glück. Man fand eine liebevolle Pflegefamilie. Astrids Pech war, dass ihre Mutter, als Astrid gerade sechs war, ihren Anspruch auf ihre Tochter geltend gemacht hatte. Sie absolvierte erfolgreich ein Entzugsprogramm. Astrid kam zurück zu ihrer Mutter. Nico wurde immer noch schlecht, wenn er darüber nachdachte, dass so etwas rechtens war. Aber da Astrids Mutter nie auf ihr Sorgerecht verzichtet hatte, konnte ihre Pflegefamilie nichts machen. Obwohl sie es weiß Gott versucht hatten. Das ganze ging ein halbes Jahr gut. Dann erlitt Astrids Mutter einen Rückfall. Mittlerweile war Astrid acht Jahre alt und in den Augen ihrer Mutter eine gute Geldquelle. Sie verkaufte ihre Tochter an Freier. Nico wollte sich gar nicht vorstellen, was die Kleine alles durchgemacht hatte. An ihrem zehnten Geburtstag war Astrid schließlich abgehauen und schlug sich seitdem auf der Straße durch. Eine Freundin hatte ihr vom Confianza erzählt. Eines Tages stand Astrid vor der Tür. Nico hatte Dienst an diesem Tag. Er ließ sie rein, setzte sich mit ihr in die Küche, trank einen Kaffee und stellte keine Fragen. Astrid musterte ihn nur, stand auf und ging. Aber sie kam wieder. Es dauerte zwei Wochen, bis sie überhaupt mit Nico sprach.
„Du bist süß. Mit dir hätte ich es sogar umsonst getrieben.“
Nico war nicht überrascht. Solche Sätze hörte er öfter. Die Jugendlichen wollten schockieren. Das war alles, was sie konnten. Er reagiert, wie er das immer tat. Er ignorierte es. Er reichte ihr einfach die Hand und sagte: „Ich bin Nico.“ Er stellte ihr ebenfalls einen Kaffee, Milch und Zucker hin. „Wenn du reden möchtest, höre ich dir sehr gerne zu. Wenn nicht, bin ich froh, meinen Kaffee nicht mehr alleine trinken zu müssen.“
„Soll ich dir einen blasen für den Kaffee?“
Er hatte auch diese Anspielung von Astrid übergangen und ihr ein wenig über die Einrichtung erzählt: Dass confianza das spanische Wort für Vertrauen und Hoffnung war, dass hier niemand etwas von ihr erwartete, dass sie jederzeit kommen und gehen konnte. Es gäbe nur zwei Regel: keine Waffen und keine harten Drogen. Dennoch dauerte es weitere vier Wochen bis Astrid wirklich glauben konnte, dass tatsächlich niemand etwas von ihr erwartete. Sie konnte essen und trinken und schlafen, ohne dass eine Gegenleistung verlangt wurde. Sie konnte kommen und gehen wie sie wollte. Paula und Nico waren einfach für sie da. Ohne Forderungen. Nico hatte schon lange erkannt, dass das der beste Weg war an die Klienten, wie die Jugendlichen genannt wurden, heranzukommen. Aber Astrid war anders. Irgendwie hatte sie sich in Nicos Herz geschlichen. Die Kleine war zäh, ließ sich nicht unterkriegen. Und sie war intelligent.
Nico seufzte und schloss die Akte. Ihm war schon länger klar, dass er den für seine Arbeit dringend benötigten Abstand bei Astrid verloren hatte. Die Vorschriften besagten in so einem Fall, sich zurückzuziehen. Paula hätte übernehmen müssen. Aber Astrid hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass sie Paula zwar mochte, ihre Bezugsperson aber Nico war. Und eins war sicher: Sollte sich das ändern, würde sie nicht wiederkommen und sie hätten sie verloren.
„Nico!“, vernahm er Paulas Stimme vom Treppenaufgang. „Ich könnte hier Hilfe gebrauchen.“ Ihre Stimme klang ruhig. Dennoch wusste Nico, dass es dringend war.
Als er den Essensraum betrat, sah er, dass zwei ihrer Klienten in Streit geraten waren und sich jetzt wütend gegenüberstanden. Einer von ihnen hatte ein Messer in der Hand und fuchtelte damit bedrohlich in der Luft herum. Paula stand direkt neben ihm und redete beruhigend auf ihn ein. Auch auf die Entfernung erkannte Nico, dass die Emotionen bereits so hochgekocht waren, dass Reden nicht mehr helfen würde. Ohne zu zögern trat er hinter den Jungen, griff nach der Hand mit dem Messer und drehte ihm den Arm auf den Rücken.
„Jetzt gehen wir langsam hier raus, Timo.“ Nico bewegte sich rückwärts und hielt Timo fest, während dieser schrie und zappelte. Paula kümmerte sich derweil um den anderen Jungen.
Nico beförderte Timo ohne große Probleme auf die Straße.
„Du weißt, dass Messer hier nicht erlaubt sind“, stellte er klar.
„Ach, leck mich!“ Wütend stapfte Timo die Straße hinunter und verschwand hinter der nächsten Ecke.
„Hast du jemals in der ganzen Zeit, die du hier bist, so ein Angebot angenommen?“, vernahm Nico Astrids Stimme hinter sich. Sie saß auf der Treppe und hielt eine Kippe in der Hand. Er ließ sich neben ihr nieder.
„Nein“, erklärte er ernst.
„Das solltest du aber.“
„Warum denkst du das?“, fragte er.
„Du wirkst ein wenig verkrampft. Sex entspannt.“
„Sagt wer?“
Astrid drückte die Zigarette auf der Treppe aus und schmiss den verbleibenden Stummel in den Blumentopf, der für solche Zwecke aufgestellt worden war. Dann sah sie ihn aus braunen Augen an, die so viel älter waren als zwölf. „Ich habe davon gehört.“
„Ich auch“, grinste Nico.
Sie blickten sich an und prusteten gleichzeitig los. Nico stand auf, zog Astrid mit sich hoch und gemeinsam betraten sie das Haus.
Acht Stunden später streckte Nico sich. Er hatte Feierabend. Sven war vor einer halben Stunde gekommen und würde die Spätschicht übernehmen. Bis auf den Zwischenfall vom morgen war es trotz des großen Andrangs weitestgehend ruhig gewesen. Gerade als sich Nico seine Jacke anziehen wollte, erschallten von oben wütende Stimmen.
Wäre ja auch zu schön gewesen, dachte er resignierend.
„Du Penner. Nimm deine Drecksgriffel von mir oder ich schlitze dich auf!“
„Leg das Messer weg“, vernahm er Svens ruhige aber bestimmte Stimme.
„Sonst was?“, verhöhnte ihn jemand.
Nico zögerte nicht und eilte die Treppe hoch. Vor ihm sah er Sven, der von einem etwa 14jährigen Jungen in die Ecke gedrängt wurde. Timo stand schräg dahinter und wirkte erstaunt. Ein blondes Mädchen lag wimmernd am Boden, schien aber unverletzt.
„Was ist hier los?“, machte sich Nico mit lauter Stimme bemerkbar.
Der Jugendliche, der Sven bedroht hatte, fuhr herum.
„Wo kommst du Wichser denn her?“
Das Mädchen rappelte sich auf. „Der Kerl hat mich betatscht“, schluchzte sie.
Nico frage sie sanft: „Ist dir etwas passiert?“
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