Merkels moralische Hochnäsigkeiten konnten innenpolitisch nur verfangen, weil der Wunsch deutscher Eliten nach moralischer Wiedergutwerdung und Erlösung vom Fluch der Vergangenheit im kritischsten Moment seit 1989 einfach aus dem Hut gezaubert und mobilisiert werden konnte. Der Professor für Soziologie an der FU Berlin, Prof. Dr. Sérgio Costa, brachte es am 31. Juli 2015 in der Huffington Post, die sich im Jahr der Grenzöffnung zum neuen Organ der Hurra-Mobilmachung befleißigen wollte, auf den Punkt:
Liebe Flüchtlinge, es ist gut, dass ihr hier seid, weil Deutschland und Europa, indem sie euch empfangen, ihren historischen Verantwortungen nachkommen. (...) Wer Menschen helfen kann, muss es auch tun – immer und bedingungslos. (...)
Individuen oder ganze Gesellschaften, die in ihrer Existenz bedrohten Menschen Hilfe verweigern, sind moralisch abscheulich. Nehmen Individuen und Gesellschaften ihre Verpflichtung zur Hilfeleistung jedoch wahr, werden sie moralisch vollkommen.
Die deutsche (wie auch andere) Kriegsmaschine vertrieb Millionen Menschen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg aus Deutschland und aus anderen Ländern. Viele aus Deutschland und/oder von Deutschen vertriebene Menschen wurden als Flüchtlinge weltweit empfangen und konnten somit überleben. Die jetzige Flüchtlingskrise stellt für Deutschland eine Chance dar, nun seiner Reziprozitätspflicht nachzugehen.
Diesen wenigen, schwindelerregend hohen, hehren Worten wohnt genau jene Schuld-Überkandideltheit inne, derentwegen hierzulande jedwede Flüchtlingsdebatte so krachend entgleisen musste: empörte Abscheu, historische Schuld, moralische Vervollkommnung, bedingungslose Begeisterung.
Das Vorhaben der deutschen Eliten kann man in aller Kürze so zusammenfassen: Die historische Schuld kann in moralische Vollkommenheit nur durch die Pflicht zur Reziprozität verwandelt werden – also durch den Ausgleich dessen, was man ehedem als Unrecht selbst angetan hat. Und das alles bedingungslos.
Ein Vulgärchristentum, das von der Schuld- und Sündhaftigkeit des Menschen überzeugt ist, trifft hier auf einen Vulgärbuddhismus, bei dem man sein Karma verbessert, indem man das im vergangenen Erdenleben zugefügte Leid im jetzigen ausgleicht. Selten war der politische Diskurs pseudoreligiös so aufgeladen wie 2015, wenn auch gedanklich dabei nur ein kosmischer Kuhhandel mit einer Portion karmischem Kitsch herauskam.
Nun könnte man über solcherart Polit-Katechismus herzhaft lachen, hätte sich dieser moralische Vervollkommnungswunsch, garniert mit einem klassischen Schuldkomplex, nicht bis weit in die höchsten bürgerlichen Kreise der politischen Klasse hineingefressen. Dass die linken und grünen Bewegungen für diese Art von Betroffenheitskitsch aus Selbstanklage, Geißelung und Selbsterniedrigung nicht nur empfänglich sind, sondern dieser Mix gar zur Gründungs-DNA ihrer (nach eigenem Selbstverständnis „progressiven“) Bewegungen gehört, haben viele immer schon geahnt. Dass nun aber selbst bürgerliche Parteien wie die CDU und CSU diese Form des Selbstanklageokkultismus übernommen haben, überrascht dann doch.
Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Gerd Müller, seines Zeichens Mitglied der CSU, hielt am 18. Mai 2017 eine Rede vor dem deutschen Bundestag, in der er die Parlamentarier folgendermaßen aufklärte: „Glauben Sie nicht, dass wir unseren Wohlstand auf Dauer auf dem Rücken Afrikas und der Entwicklungsländer aufrechterhalten können, ohne dass die Menschen aus diesen Ländern zu uns kommen und sich dann das holen, was ihnen zusteht.“
Hier macht ein CSU-Minister aus seinem sozialrevolutionären Herzen keine Mördergrube. Wir – die Deutschen – genießen unseren Wohlstand auf dem Rücken Afrikas und der Entwicklungsländer. Was genau Minister Müller mit dem „Rücken Afrikas und der Entwicklungsländer“ meint, führt er nicht näher aus, doch nach all den medialen Beschallungen der letzten Jahrzehnte fällt – soviel Spekulation muss erlaubt sein – als erstes ein: der CO2-Fußabdruck des Menschen in westlichen Gesellschaften ist um ein Vielfaches höher als der eines Afrikaners. „Wir“ verschmutzen also die Luft und die Umwelt, während den Afrikanern die Mittel dazu fehlen. Das muss der Rücken sein, auf dem wir unseren ebenso fragwürdigen wie unverdienten Wohlstand genießen.
Bundesminister Müller, der in seiner Rede eine eklatante Gerechtigkeitslücke zwischen den Entwicklungsländern und den Industrieländern meint ausmachen zu müssen, spricht hier zum deutschen Parlament wie auf einem protestantischen Kirchentag. Und weil die Gerechtigkeitslücke so groß sei, kommen dann eben die Menschen „und holen sich, was ihnen zusteht.“
Hier wird in einem einzigen Satz der Wohlstandsverzicht der Industrieländer angemahnt, die Verrechtfertigung der offenen Grenzen geleistet und der nationalen Politik nicht mehr als die Rolle eines Zuschauers zugebilligt, ganz so, als könnte die Politik keine Maßnahmen treffen, diejenigen, die sich holen wollen, was ihnen vielleicht doch nicht zusteht, davon abzuhalten. „Wir“ – die Schuldigen – dürfen also nur noch mit Interesse staunen, wie die Menschen aus den Entwicklungsländern kommen und sich holen, was ihnen zusteht. Der von jedem Minister geschworene Amtseid, das Wohl des eigenen Volkes zu mehren und Schaden von ihm zu wenden, klang auch schon mal überzeugender.
Bei der deutschen Bundeskanzlerin heißt es dann am 11. November 2017 in einem Video-Podcast an das deutsche Volk: „Die Dringlichkeit – ich glaube, wir merken das alle an den Naturkatastrophen – ist groß. Und gerade wenn wir auch über Migration und anderes sprechen, wissen wir, dass das indirekt oft auch mit dem Klimawandel zusammenhängt.“
Wissen wir das?
Nur weil es von jedem Rednerpult und jeder Kanzel, auf jedem Kirchen- und Grünen-Parteitag sowie aus beinahe allen Print- und Funkmedien erschallt, so heißt das ja noch nicht, dass es richtig sein muss.
In einem Vortrag vor der Hayek Gesellschaft im Oktober 2017 stellt der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin einen Vergleich an, um die Kurzsichtigkeit und Unterkomplexität dieser Schuldlust zu verdeutlichen: „Die Menschen im unwirtlichen Schweden habe sich durch Fleiß, Wissen und eine gute staatliche Ordnung einen großen Wohlstand erworben, obwohl sie niemals eine Kolonie besessen hatten. Die Menschen in Äthiopien, die, bis auf wenige Jahre unter italienischer Herrschaft, niemals kolonialisiert waren, könnten viel reicher sein als die Schweden, denn sie verfügen über fruchtbare Landstriche und im Hochland über ein sehr angenehmes Klima. Hätten sie in den letzten 200 Jahren wie die Schweden gelebt, gäbe es allerdings keine 100 Millionen Äthiopier, sondern allenfalls fünf.“
Welche Reziprozitätspflichten und Wanderungsrechte aus diesem Beispiel abzuleiten wären, das weiß im Zweifelsfall niemand – oder nur die Bundeskanzlerin höchstselbst, die am 24. Januar 2018 auf dem World Economic Forum in Davos verlauten ließ: „Wir Europäer haben eine tiefe Schuld gegenüber dem afrikanischen Kontinent aus den Zeiten der Kolonialisierung.“
Doch genug der Zitate! Mit den wenigen Beispielen sollte hier nur in aller Kürze aufgezeigt werden, dass selbst in bürgerlichen Kreisen inzwischen ein Denken vorherrscht, das in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts noch als sozialrevolutionär galt und sich an Frantz Fanons bereits 1961 erschienenem Hauptwerk „Die Verdammten dieser Erde“ orientiert. Es war die Pflichtlektüre aller Progressiven, Aufgeklärten und in ihrem Hass gegen den Westen Vereinten. Und nachdem den internationalen Sozialisten das arbeitende Proletariat verlustig gegangen war, schufen sie sich als neues revolutionäres Subjekt den Menschen aus der Zweiten und der Dritten Welt.
Nach Fanon hat der weiße Mann jene unheilvolle Kultur hervorgebracht, welche den Rest der Welt unterwirft und blutsaugerisch ausbeutet. „Europa hat seine Pfoten auf unsere Erdteile gelegt, und wir müssen so lange auf sie einstechen, bis es sie zurückzieht“, so der französische Philosoph Jean Paul Sartre im Vorwort zu Fanons „Verdammten dieser Erde“.
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